Peter Trawnys Buch „Aschenplätze“

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„Ich kenne alle bis auf Punkt und Strich, / ich kenn nur einen nicht, und der bin ich.“ So spricht der Dichter, der Philosoph dagegen: „Alles Tun des Geistes ist deshalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wissenschaft ist nur der, daß der Geist in allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne.“ Und wer hat nun recht? Hegel oder François Villon? Der Leser von Peter Trawnys erstaunlicher Selberlebensbeschreibung „Aschenplätze“ ist geneigt, mal mit „keiner“ zu antworten, mal mit „beide“, doch am Ende einigt er sich mit sich selbst auf etwas, was dennoch kein Kompromiss ist: Der eine überzeugt ihn mit seinem strengen Imperativ über Himmel und Erde, beim anderen stimmt er heiter ein in die dauerhafte Aussichtslosigkeit der Sache.

Warum schreibt ein Philosoph überhaupt eine Autobiographie? Trawnys Antwort ist verblüffend einfach: Seitdem das Orakel von Delphi den ratsuchenden Menschen aufgefordert hat: „Erkenne dich selbst!“, sitzt in der abendländischen Philosophie das denkende Subjekt auf einem höchst privilegierten Platz zur Erkenntnis der Welt, die ihm als Objekt gegenübersteht. Kurioserweise ist dieses Subjekt, also der menschliche Geist, aber imstande, sich selbst ebenfalls als Objekt zu betrachten, und dieser überraschende, Selbsterkenntnis genannte Vorgang wird damit zur zwingenden Voraussetzung der neuzeitlichen Subjektphilosophie: Wer sich nicht selbst erkennt, der schafft das auch nicht mit der Welt.

Philosophischer Wilderer und akademischer Außenseiter

Allerdings, so Trawnys Pointe, habe die Philosophie den eignen Gedanken nicht konsequent zu Ende gedacht, habe aus dem „Subjekt“ ein theoretisches Ab­strak­tum gemacht und verdrängt, dass jedes denkende Subjekt auch ein Wesen ist aus Fleisch, Blut und dem ganzen Wirrwarr, der sonst noch dazugehört. Die Frage, warum einer denkt, was er denkt, ist also eine genuin philosophische. Unser Mann ist natürlich nicht der Erste, der sie stellt, und ein Vorbild ist sicher Nietzsches oft belächeltes „Ecce homo“ mit seiner detaillierten Selbstauskunft zum Thema „Werde, der du bist“. Aber es liegt wiederum in der Natur ausgerechnet dieser Frage, dass sie nicht ein für allemal beantwortet werden kann, sondern zwangsläufig von jedem Subjekt wiederum nur für sich allein.

 „Aschenplätze“. Eine Theorie dieses Subjekts.Peter Trawny: „Aschenplätze“. Eine Theorie dieses Subjekts.Matthes & Seitz Verlag

Villons Spott im Ohr, nähert man sich nur mit Vorsicht einem Buch, das, dem Verlag zufolge, dem Leben des Autors „jenseits aller Illusion und Lüge“ zu Leibe rückt, ist doch gerade dieser fromme Vorsatz regelmäßig die final perfekte Täuschung. Der Leser jedoch, der schon tief in den schwarzen Maelstrom autobiographischen Selbstbetrugs zu blicken glaubt, hat seine Rechnung ohne den intelligenten Autor gemacht. Beanstandet der kritische Hase, jede Autobiographie sei zunächst einmal Dokument des Narzissmus, antwortet der philosophische Igel: Selbstverständlich! und liefert ein Kapitel „Von meinem Narzissmus“. Erklärt der Hase selbst diagnostizierte Illusionslosigkeit zur tautologischen Spiegelfechterei, nickt der Igel und weiß auch sogleich, warum das nicht anders sein kann. Legt der Hase schließlich seinen Trumpf auf den Tisch, auch die offenste, intimste Selbstentblößung könne doch niemals eine zwingende Kausalität zum Denken dieses Subjekts beweisen, antwortet der Igel: Jawohl, und genau das ist das Thema meines Buches.

Nachkriegsfamilie und Schule, Fußball und Bahndamm

Peter Trawny, philosophischer Wilderer und akademischer Außenseiter, ist bekannt geworden als Herausgeber und Kritiker von Heideggers berüchtigten „Schwarzen Heften“, und natürlich kommt auch diese Affäre zur Sprache, bei der er sich in heikler Doppelfunktion zwischen alle Stühle gesetzt hat, und man begreift, dass der Autor diesen Ort zwar nicht für bequem hält, so doch für gewissermaßen angemessen. Der anfangs zögernde Leser jedenfalls folgt dem Buch überrascht und gefesselt, wechselnd zwischen Kopfschütteln, Zustimmung, neuen Fragen, und wenn er es zwischendurch atemholend beiseitelegt, dann meist zum höchst angeregten Nachdenken, zuweilen auch aus einem Überdruss, der dann wiederum schnell dem Weiterlesen weicht – weiß Gott nicht das schlechteste, was über ein Buch zu sagen ist!

Trawny, 1964 in Gelsenkirchen geboren, folgt zunächst einmal klassisch der Lebensgeschichte: Nachkriegsfamilie und Schule, Fußball und Bahndamm, Großmutter und Bauernhof, erste Lebens-, also Liebes- und Leseerfahrungen, später dann die philosophischen Lehrjahre. Auf der einen Seite dichte Bilder der Herkunft: die generationenlange Bergarbeit „unter Tage“ im Ruhrgebiet; die Urgroßmutter, die im weißen Nachthemd vor dem Grundig-Röhrenradio der Messe auf Radio Vatikan lauscht; die Schule mit ihren Ex-Nazi-Lehrern, „die billige Zigarren rauchend die Klassen betraten“, aber auch mit sadistischen Schülern, die schwache Lehrerinnen „gnadenlos fertigmachten“. Auf der anderen das beständige Nachdenken über das Gelebte: über die „Bunkerseelen des Wirtschaftswunders“, über das Recht zur Autobiographie, über Privatheit, Erinnerung, Körper und Geist, Politik und Wissenschaft. Und obwohl Trawny ausdrücklich als Theoretiker spricht, sind es gerade die erzählerischen Passagen, die den Leser immer wieder stark beeindrucken.

Erzählung und Analyse wechseln in eigenen Kapiteln – womöglich ein Zeichen, dass die Werde-der-du-bist-Frage doch unbeantwortet bleiben muss? Denn woher weiß einer eigentlich, wer er ist? Der Autobiograph muss erzählen, als wüsste er’s; der Theoretiker bleibt skeptisch: „Ob ich wirklich mein Leben gelebt haben werde, ist unentscheidbar. Anders gesagt: Das kann eigentlich nur entschieden werden – einzig und allein von mir selbst.“ Diese „Entscheidung“ ist und bleibt eine Paradoxie: kann letztlich nichts anderes sein als entweder ein Ja oder das Nein zum einzigen, unwiederholbaren gelebten Leben; und weder Ja noch Nein folgte einer rational zu ziehenden Bilanz, bleibt vielmehr eine existenzielle Wahl. Womit wir wiederum bei Nietzsche sind.

Und nun? Ist die Autobiographie eines Philosophen etwas anderes als die von dir oder mir, Hinz oder Kunz? Was das simple Leben betrifft, ganz sicher nicht. Doch gerade dieses simple Leben, das der Philosoph führt wie jedermann, ist hier der dauernde Stachel im (falls man’s so nennen darf) Fleisch des philosophischen Subjekts. Dieser Autor, um im Bild zu bleiben, ist philosophischer Hase und Igel zugleich, dreht die Schraube der Reflexion stets eine Windung weiter, ohne dass sie (das hat Reflexion so an sich) die leibhaftige Wirklichkeit tatsächlich jemals berührt. Warum einer denkt, was er denkt, ja, das wüsste man auch von sich selber gern! Peter Trawnys überaus anregendes Buch hilft dabei insofern weiter, als es den Leser mitnimmt auf alle scharfen Kurven der Selbstreflexion, und das zwar nicht ohne, doch mit möglichst wenig Illusion und Lüge. So intelligent, närrisch, traurig, narzisstisch, indiskret, scharfsinnig, gelehrt ist lange nicht erklärt worden, wie kompliziert es ist, mit sich selbst Bekanntschaft zu schließen – immerhin ein Lebensprojekt.

Peter Trawny: „Aschenplätze“. Eine Theorie dieses Subjekts. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025. 410 S., geb., 28,– €.

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