Wer den Titel nicht genau liest, wird ihn für anmaßend und für unsere säkularen Gesellschaften hochgradig unzeitgemäß halten: Ein doch gewöhnlicher Mensch, mag er sich auch eines Doktortitels rühmen, scheint das Wunder, das vom Gründer des Christentums berichtet wird, dieser sei über den See Genezareth gewandelt, wiederholen zu wollen und es vor allem auch zu können. In Wahrheit kündigt der Titel kein erneuertes Wunder an.
Die Hauptfigur, die mit dem Verfasser, einem freien Schriftsteller, Übersetzer, Rundfunkautor, Filmemacher und Literaturkritiker, den Vornamen gemeinsam hat, dieser Prof. Dr. Otto Prenzlau, der in Frankfurt eine philosophische Praxis für Lebensberatung betrieb, zudem eine Zeitungskolumne schrieb, ist arbeitsmüde geworden. Er wird deshalb zu einer von ihm zutiefst verabscheuten Aufgabe, der Teilnahme an einer Kreuzfahrt, „verdonnert“, auf der er endlich „zur Besinnung kommen“ soll. Zu seinem Erstaunen jedoch erlebt er auf dem Schiff, der AIDAblu, wie sich bei ihm, der bislang, ähnlich wie sein verehrter Schopenhauer, glücksmüde war, die inneren Blockaden mehr und mehr lösen und er von seiner pessimistischen Grundstimmung frei und geradezu „glücksmächtig“ wird: Der bisherige Bewegungsmuffel unternimmt an Bord lange Spaziergänge.
Ein leicht schwebender Gang
Dabei genießt er unvermutet den durch das sanfte Vibrieren der Schiffsbewegungen und ein kaum merkliches schmeichelndes Schaukeln verursachten leicht schwebenden Gang. Genau darauf spielt übrigens der Titel mit dem Übers-Wasser-Gehen an.
Beim unermüdlichen Laufen findet nun eine „wundersame, tagtäglich nachzuzeichnende Abnehmeprozedur“ statt: Prenzlau verliert sein bisher enormes Übergewicht. Dafür muss er nicht einmal auf die diversen kulinarischen und alkoholischen Annehmlichkeiten der Kreuzfahrt verzichten. Im Gegenteil nimmt er sie, insbesondere die vielen Bars an Bord, großzügig in Anspruch. Nach einiger Zeit schließlich gerät er in einen „schwebend leichten Zustand, in dem alle lästigen Gedanken von ihm fallen“ und er nur noch glücklich und müde ist.

Der merkwürdige Prenzlau trifft etliche andere Personen. Sie alle werden so anschaulich beschrieben, dass man sie sich lebhaft und als unserer Wirklichkeit keineswegs Fremde vorstellt: Da gibt es den an Land erfolglosen Bordschreiber, der jetzt vor geringstem Publikum seine überzeugungslosen Texte vorliest. Oder eine Künstlerin, die mit dem doch eigentlich erhofften Verkauf eines ihrer überteuerten Bilder unglücklich wird.
Ein Kapitän trauert der DDR nach
Wir lernen einen Rentner kennen, der in verspäteter Zweisamkeit seine im Leben vernachlässigte, aber längst verstorbene Frau für seine Mitmenschen hörbar um Rat fragt. Und der Titelheld trifft einen „Dr. Dünkel“ genannten besserwisserischen Störenfried, aber auch einen der DDR nachtrauernden promovierten Kapitän und wird später, wieder an Land, in seiner Lebensberatungspraxis von einem ungeliebten Patienten – oder muss man ihn Kunden nennen? – namens Dr. Wurm aufgesucht, der beratungsresistent ist, denn „er wusste alles und kannte die militärischen Lösungen für die Probleme der Welt“.
So erzählt, mag der Roman auch mit seinen liebenswerten Sonderlingen das Leserinteresse noch zu wenig wecken. Die skurrile Rahmengeschichte mit ihren seltsam kauzigen Figuren – Prenzlau nennt sich selbst einen Kauz: wie Robert Walser, aber nicht genial – wird jedoch vielfältig gewürzt, etwa mit den feinen Beschreibungen der während der Fahrt wechselnden Wetterbedingungen und dem teils ruhigen, teils heftigen Seegang, mit den Landschafts- und Klimaverhältnissen der bei Ausflügen besuchten Inseln. Man freut sich etwa, ein winziges Beispiel, über die Formulierung, dass „ein feiner Wolkenzwirn“ aufzieht. Postkartenschönheiten darf man von Böhmer allerdings nicht erwarten, diese streut er nur als Werbetexte der Reederei ein. Auf Fuerteventura beispielsweise bietet sich seinem Protagonisten die Aussicht auf eine heruntergekommene Mole, ein paar ältliche Kähne und das Kreuzfahrtschiff, das im öligen Wasser schaukelt.
Das Schiffspersonal als „Unterhaltungsfamily“
Wir nehmen an literarischen Ausflügen teil: etwa zu Miguel de Unamuno, der auf Fuerteventura die besten über diesen Ort je geschriebenen Sonette verfasst, zu Eichendorff und, beim Vertreten des erkrankten Bordschreibers, besonders kenntnisreich zum Jung-Genie und Glückskind Goethe, dessen ständige innere Unruhe Böhmer einfühlsam beschreibt. Hier und an weiteren Stellen erweist sich der Autor als zwar hochgebildet, drängt aber seine Bildung dem Leser nie auf, sondern spielt sie lieber ironisch herunter.
In der Eigenart des Ironischen klingt schon die Besonderheit an, die den Roman so eindrucksvoll macht. Es ist der ihn tragende Grundton: eine durch Humor und feinsinnige Ironie gegen Trübsinn gefeite Melancholie. Hinzu kommen bereichernde Wortschöpfungen wie „Glücksmüdigkeit“, „Glücksfieber“ und „Glücksmächtigkeit“ sowie zwar bekannte, jedoch verfremdend verwendete Ausdrücke wie „Still-Demenz“ und „Heilige Einfalt“. Besonders zahlreich sind bitter-böse, aber treffsichere Beschreibungen: Der Autor lässt das nichtnautische Schiffspersonal sich selbst ironiefrei als „Unterhaltungsfamily“ bezeichnen, worauf ihre Leiterin im Text zum Entertainment-Manager erhoben wird.
Immer wieder macht sich Böhmer, der für fast ein Jahrzehnt in bedeutenden Verlagen als Lektor tätig war, über manche Seite des Literaturbetriebs und über die Stipendienvergabe einiger deutscher Kulturinstitute lustig. Nicht zuletzt darf man Stilvielfalt bewundern. Denn Böhmer streut auch immer wieder Briefwechsel ein, in denen unterschiedliche Personen die ihnen je eigene Sprache pflegen.
Ob die bei den Spaziergängen „übers Wasser“ gefundene Glücksmächtigkeit mit ihrer Leichtigkeit des Lebens auf dem Land erhalten bleibt, sei hier nicht verraten.
Otto A. Böhmer: „Geht ein Philosoph übers Wasser“. Roman. Verlag Der blaue Reiter, Hannover 2025. 200 S., geb., 24,90 €.