Opern von Britten und Charpentier in Aix

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Während der Sommer in Aix-en-Provence uns duftend umfängt und sich die großen Oleander im Wind wiegen, wird in dem historischen Théâtre du Jeu de Paume eine maritime Kammeroper gegeben, Benjamin Brittens „Billy Budd“. Der amerikanische Theatermacher Ted Huffman hatte mit dem kürzlich verstorbenen Intendanten Pierre Audi verabredet, Brittens zweiaktige Fassung von 1964 so umzuformen, dass sie auch für andere Theaterformate und kleinere Bühnen spielbar ist. Für „The Story of Billy Budd, Sailor“ ersetzt der Komponist Oliver Leith das Orchester durch zwei Klaviere und großes Schlagwerk, insbesondere Glockenspiel, wie es schon bei Britten ausgeprägt war. Vor diesem klanglichen Hintergrund sind die sechs Männerstimmen — vier tiefe Stimmen und zwei Tenöre — sehr präsent, zumal sie im Jeu de Paume im Vordergrund vor den Instrumenten agieren, was dem kammermusikalischen Charakter und der Textverständlichkeit zugutekommt.

Die Szene auf einem angedeuteten Schiff wechselt zwischen dem Deck und der Kapitänskajüte; ein aufgezogenes Segel und wenige Requisiten — unvermeidlicher Portwein — machen die Räume deutlich. Wie schon in seinem einnehmenden Musiktheaterstück über „queeres“ Leben, „The faggots and their friends“ (2023), ist den Darstellern bei Huffman eine sympathische Mühelosigkeit zu eigen. Die Seeleute stecken in weißen Hosen und tragen dazu entweder ein ärmelloses Hemd oder einen blauen Gehrock, je nach Hierarchie an Bord. Im Halbdunkel wechseln sie Jacke und Barttracht und schlüpfen in eine andere Rolle.

Gewalt unter Matrosen

Die Geschichte nach einer unvollendeten Novelle von Herman Melville interessierte Benjamin Britten als „Seestück“ mit seinen speziellen Farben, vor allem aber als Stoff für zwischenmenschliche Konflikte, wobei das homoerotische Thema gleichsam im Untergrund immer mitläuft. Die Männer sind arme Teufel, der Langeweile auf dem Meer und der Gewalt ausgesetzt: Kriegsgewalt in den Kämpfen gegen französische Schiffe, disziplinarischer, oft genug auch willkürlicher Gewalt an Bord, Konflikten untereinander: „We’re all lost forever on the endless sea“ heißt es in einem deprimierten Ausbruch.

Daran ändert auch die Aufnahme des zwangsrekrutierten Billy Budd nur vordergründig etwas. Der freundliche, gut aussehende Findling — kann nicht lesen, aber singen — bringt zwar unerwartet Licht und Lebensfreude auf die „Indomi­table“, doch nach kurzer Zeit verdüstert sich die Stimmung und kulminiert in Verrat, Gewalt und der schockierenden Hinrichtung des guten Billy. Die Katastrophe ändert auch das Leben von Kapitän Fairfax Vere von Grund auf.

Vor der Hinrichtung noch einen Keks

Diese große Tenorrolle hatte Britten für seinen Lebenspartner Peter Pears geschrieben; Christopher Sokolowski gestaltet sie in Aix gesanglich und darstellerisch bewegend. Markant auch die konzentrierten Auftritte des sinistren „Master of Arms“ Claggart, dessen zurückgewiesenes Begehren in Hass auf Billy und alles Gute kippt (Joshua Bloom). Seine Verwandlung in Dansker, den einzigen treuen Freund des Verurteilten, der Billy am Abend vor der Hinrichtung noch einen Keks bringt, ist umwerfend. Ian Rucker singt die anspruchsvolle Baritonpartie des Billy Budd mit Kraft und Natürlichkeit; in seinem Abschiedsgesang kommt sogar der „good boy“ Jesus ins Spiel, der auch für ihn gestorben sei. Dass er als Gehenkter in einer Theaterschlinge minutenlang über dem Deck schwingt, erscheint unangemessen. Trotzdem eine intensive, von Finnegan Downie Dear musikalisch kompetent geleitete Vorstellung.

Etienne Pluss entwarf für „Louise“ von Gustave Charpentier einen Wartesaal des 19. Jahrhunderts.Etienne Pluss entwarf für „Louise“ von Gustave Charpentier einen Wartesaal des 19. Jahrhunderts.Monika Rittershaus

Das elegante Theater des ehemaligen erzbischöflichen Palasts bietet am späten Abend unter freiem Himmel eine Opern-Rarität, „Louise“ von Gustave Charpentier. Gleich der erste Klangeindruck des wunderbar mitgehenden Orchestre de l’Opéra de Lyon (Dirigent: Giacomo Sagripanti) ist der einer höchst differenzierten Instrumentierung: Ein „französisch“ duftender Streicherklang mischt sich mit originellen Holzbläser-Farben, alles verströmt Helligkeit, Frische, Jugendlichkeit. Wenig später hat das tiefe Blech einen ersten bedrohlichen Einsatz zum freudlosen Auftritt von Louises Mutter (Sophie Koch). Dieser fast überzeichnete Ton weicht wiederum zärtlichen Cellostimmen und Flötengesang, wenn der Vater nach Hause kommt. Doch hier liegt gerade das Problem: Der Vater (Nicolas Courjal) liebt die vielleicht siebzehn Jahre alte Louise zu sehr und hindert sie, ein selbständiges Leben zu beginnen. Kaum zeigt Louise ihm schüchtern einen Heiratsantrag, den sie von dem leidenschaftlichen Montmartre-Literaten Julien bekommen hat, bekommt er einen Panikanfall, im Orchester ertönen die tragischen Klänge eines Trauermarschs. Er beruhigt sich erst wieder, als die folgsame Tochter ihm aus der Zeitung vorliest.

„Louise“ erlebte 1900 an der Opéra Comique eine sensationelle Uraufführung, sie traf offenbar einen Nerv. Der sozialkritisch eingestellte Komponist hatte das Libretto selbst verfasst. Die Charaktere sprechen zum Teil Argot; Elsa Dreisig als Louise verzichtet auf das gerollte Bühnen-R und bringt so Alltagssprache auf die Bühne. Im prachtvollen Bühnenbild eines Wartesaals der Jahrhundertwende (Bühne: Etienne Pluss, Licht: Valerio Tiberi) hört Louise die lebhaften Stimmen der Straße, die sie magisch anziehen. In höchsten tenoralen Tönen besingt ihr Julien Liebe und Freiheit (stimmlich zu forciert: Adam Smith). Er lockt Louise in das Leben der Boheme, wo ihr eine Platinblonde anvertraut: „Vor zwanzig Jahren war ich die Königin von Paris!“ Eine bombastische Apotheose auf das „freie Paris“ erfasst alle Bohemiens (grandios der Chor der Oper Lyon). In Christof Loys Inszenierung changiert sie zwischen Party und patriotischer Parodie.

Holt dann die Mutter ihre entlaufene Louise wieder zurück, kündet fast karikierend eine Tuba von einer Katastrophe: „Welch ein Unglück, eine Mutter zu haben“, kommentiert ein Schelm aus der Menge. Unter Schmerzen befreit sich Louise schließlich von den Eltern, doch bleibt die Perspektive unklar. War alles nur ein Traum? Elsa Dreisig ist eine Idealbesetzung, weil ihr aparter Sopran die fragile Jugendlichkeit für die Rolle besitzt und sich zugleich gegenüber dem großen Orchester behauptet.

Als inspirierendes Beiprogramm zeigt das hiesige Musée Granet eine große Cézanne-Ausstellung; hier kann man sich Charpentiers soziale Charaktere in Nahaufnahme ansehen.

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