Anonymisiert ein deutsches Gericht eine Entscheidung unzureichend und veröffentlicht sie, sollen Dritte nicht dafür haften, wenn sie die Entscheidung zugänglich machen – zumindest, wenn sie dies für journalistische Zwecke tun. Das hat das Landgericht Hamburg in einem Verfahren entschieden, in dem es um die Zukunft der freien Zugänglichkeit von Gerichtsentscheidungen geht. Beklagter war der Betreiber der spendenfinanzierten Datenbank Openjur, die seit 2009 veröffentlichte deutsche juristische Entscheidungen sammelt und – im Unterschied zu kommerziellen Anbietern – gebührenfrei online zur Verfügung stellt.
Openjur umfasst inzwischen hunderttausende Gerichtsentscheidungen. Ein in dem Datenschatz enthaltener Beschluss aus dem Mai 2022 war vom Berliner Gericht unvollständig anonymisiert. So konnte die Welt erfahren, dass ein bestimmter Anwalt in Geldnot war und gegen ihn Zwangsvollstreckung betrieben wurde. Nach knapp einem Jahr fiel das dem Betroffenen auf. Er beschwerte sich bei Openjur, das den Namen binnen 20 Minuten entfernte.
Dennoch verklagte der Anwalt den Betreiberverein Openjur e.V. auf Schadenersatz und Unterlassung, sowohl unter Berufung auf die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) als auch auf deutsches Zivilrecht. Das Verfahren ist für Openjur existenzbedrohend, da der Verein unmöglich jede von Gerichten veröffentlichte Entscheidung auf Fehler des Gerichts untersuchen kann. Die erstinstanzliche Entscheidung des LG Hamburg lässt den Verein aufatmen: Openjur haftet demnach nicht für den Anonymisierungsfehler des Berliner Gerichts (LG Hamburg, Urteil vom 9. Mai 2025, Az. 324 O 278/23).
Vermeintlicher Widerspruch...
Die DSGVO ermöglicht Ausnahmen für journalistische, künstlerische oder literarische Zwecke, "wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen." Damit verteidigt sich Openjur gegen den Vorwurf, die DSGVO verletzt zu haben.
Gegen die zivilrechtlichen Schadenersatzforderung führt Openjur ins Treffen, kein Verschulden zu tragen, schließlich habe es den Gerichtstext lediglich kopiert und unverändert online gestellt. Das Verschulden liege beim Berliner Gericht. Darin sah der Kläger einen Widerspruch: Openjur könne nicht journalistisch tätig sein, wenn es Texte lediglich kopiere.
...ist keiner
Doch das LG Hamburg verweist darauf, dass die Erwägungsgründe der DSGVO selbst verlangen, den Begriff Journalismus weit auszulegen. Openjur sei sehr wohl redaktionell tätig: nicht im Sinne der Bearbeitung der Gerichtsentscheidungen, aber hinsichtlich deren Auswahl. Fast täglich fordert Openjur von deutschen Gerichten Entscheidungen an; zudem führt der Verein Gerichtsprozesse, um die gebührenfreie Freigabe von Entscheidungen zu erzwingen. Openjur verschlagwortet Entscheidungen und verfasst eigene Orientierungssätze. Die Verantwortlichen wählen aus, welche von Dritten zugestellten Entscheidungen sie veröffentlichen, und was sie auf der Homepage und in Sozialen Netzwerken hervorheben. Aufgrund der Journalismus-Ausnahme lehnt das Gericht Ansprüche nach der DSGVO ab. Es fügt noch hinzu, dass zudem die Ausnahme für wissenschaftliche Zwecke greifen dürfte.
Auch zivilrechtlich war für den klagenden Anwalt beim LG Hamburgs nichts zu holen. Zwar habe die Veröffentlichung sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt und könne seiner Karriere schaden, doch habe Openjur berechtigte Interessen wahrgenommen und damit gerechtfertigt gehandelt: "Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der Rechtfertigungsgrund des Paragraphen 193 Strafgesetzbuch als eine Ausprägung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berücksichtigt und ist im Hinblick auf die Funktion der Presse im demokratischen Staat anerkannt" (BGH VI ZR 175/58).
Gerichte seien eine sogenannte privilegierte Quelle, der "gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden" darf. "Solange für die Beklagte keine konkreten Zweifel daran bestanden, dass eine Veröffentlichung einer Entscheidung in ihrer Datenbank in der identischen Form, wie sie bereits in der Rechtsprechungsdatenbank des Landes Berlin veröffentlicht wurde, Rechte Dritter verletzt, handelte die Beklagte gerechtfertigt und unterlag auch keiner Pflicht zur Nachrecherche." Erst durch den Hinweis des Klägers habe Openjur Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung hegen müssen, und dann habe Openjur den Namen unverzüglich entfernt.
Der Kläger muss die Kosten des Verfahrens tragen, kann aber Rechtsmittel einlegen. Damit ist die Sache für Openjur weiterhin nicht ausgestanden. Der Verein sammelt Spenden für die Abwehr der Klage.
"Anonymisierung"
Die deutsche Anonymisierungspraxis ist im internationalen Vergleich besonders streng. In vielen Ländern werden Entscheidungen nur in Ausnahmefällen anonymisiert, auch beim EU-Gericht müssen Betroffene das ausdrücklich beantragen und begründen. Österreich anonymisiert ebenfalls, nennt in der Judikatur-Sammlung des Rechtsinformationssystems im Unterschied zu deutschen Gerichten aber immerhin die Anwälte, die die Parteien vor Gericht vertreten haben. Das unterstützt die juristische Praxis.
Um Anonymisierung im datenschutzrechtlichen Sinn handelt es sich übrigens nicht. Wirklich anonymisierte Entscheidungen, bei denen niemand auf die beteiligten Personen schließen kann, wären weitgehend unnütz. Schließlich sind Angaben zum Sachverhalt wichtig, um die Entscheidung nachvollziehbar zu machen. Und der Sachverhalt lässt Wissende auf die Beteiligten schließen. Deutsche Gerichte sind vielmehr gehalten, einen Ausgleich zwischen transparenter Justiz und Persönlichkeitsrechten zu finden.
(ds)