Die israelische Armee beruft Zehntausende Reservisten ein, die Regierung in Jerusalem will den Gaza-Krieg offenbar ausweiten. Eine Strategie mit großen Schwachstellen.
4. Mai 2025, 20:26 Uhr
Die Ausweitung des Gazakriegs kündigt sich mit neuen Einberufungsbefehlen an. Israels Armee soll diese derzeit an Zehntausende Reservesoldaten verschicken, berichtete zunächst die Nachrichtenagentur AFP am Samstag. Demnach hätten Verwandte von AFP-Journalisten in Israel bestätigt, selbst bereits einen Befehl zur Mobilisierung erhalten zu haben. Die Reservisten sollen laut israelischen Medienberichten in Israel und im besetzten Westjordanland stationierte Soldaten ersetzen, damit diese den Gazastreifen verlegt werden können.
Ebenfalls am Samstag hatte die Armee erklärt, die Kämpfe im Gazastreifen zu intensivieren. Die Offensive läuft seit Mitte März, nachdem Israels Armee nach dem Ablauf der sechswöchigen Waffenruhe mit der Hamas zunächst die Luftangriffe und später auch einen erneuten Einmarsch von Bodentruppen gestartet hatte. Der Fokus liegt dabei auf der Landnahme, beispielsweise hat die Armee große Teile im Norden und im Süden, um die Stadt Rafah, besetzt. Damit habe Israel versucht, die Hamas zur Kapitulation zu zwingen, heißt es aus Militärkreisen.
Die Terrororganisation hatte mit ihrem Angriff auf
Israel vor anderthalb den Gazakrieg ausgelöst und gilt indes als massiv
geschwächt. Nach Angaben der Hamas-Behörden wurden seit Kriegsbeginn mehr als 52.000
Palästinenserinnen und Palästinenser getötet. Unabhängig überprüfen lassen sich
die Angaben nicht. Sowohl internationale Hilfsorganisationen wie auch Anwohner
des Küstenstreifens bestätigen das Leid der Zivilbevölkerung. Erstmals seit
Kriegsbeginn wächst unter den rund zwei Millionen Palästinensern in Gaza zudem
der Widerstand gegen die Hamas. Bei Protesten in mehreren Orten in Gaza forderten
Menschen die Hamas dazu auf, nicht weiter die Zivilbevölkerung für ihre
Interessen zu opfern.
Kaum Hoffnung auf einen zeitnahen Kompromiss
Vergangene Woche hatten mehrere arabische Medien berichtet, dass die Hamas-Führung einem Abkommen über eine fünfjährige Waffenruhe zugestimmt habe. Sowohl Israel als auch die Hamas beharren aber weiterhin auf Forderungen, welche die jeweils andere Seite nicht erfüllen will: Die Hamas verlangt den vollständigen Abzug aller israelischen Truppen. Israel besteht auf die Freilassung aller weiterhin verschleppten 59 Geiseln und auf die vollständige Entwaffnung der Hamas. Am Freitag hatte der israelische Fernsehsender i24News mit Verweis auf arabische Quellen berichtet, die Terrorgruppe sei erstmals bereit, ihre Kurz- und Mittelstreckenraketen unter ägyptische Kontrolle zu stellen.
Mit Israels angekündigtem Plan, den Krieg in Gaza auszuweiten, zerschlagen sich die Hoffnungen auf einen zeitnahen Kompromiss. Wie
die Times of Israel am Freitag mit Verweis auf namentlich nicht genannte Militärbeamte
berichtete, soll die Hamas weiterhin bereit sein, einem Abkommen zuzustimmen.
Demnach habe sich die Armee deshalb kurzfristig dazu entschieden, die
"erhebliche" Ausweitung der Bodenoffensive im Gazastreifen vorzubereiten − mit
dem Ziel der weiteren Landnahme.
"Die Regierung und die Armee sind sich in einem Punkt einig – der Behauptung,
dass eine Erhöhung des militärischen Drucks die Rückkehr
der Geiseln herbeiführen wird", schreibt dazu Ha'aretz-Journalist Amos Harel in
einer aktuellen Analyse am Sonntag.
Die Rechtfertigung der Armee hat allerdings drei entscheidende Probleme: Zum einen hat die bisherige Strategie der Landnahme bisher genauso wenig zu einem Abkommen geführt wie die Einstellung der Hilfsleistungen. Bereits seit Anfang März blockiert Israel alle Lieferungen lebenswichtiger Hilfsgüter nach Gaza, um damit den Druck auf die Hamas zu erhöhen. Wie das Wall Street Journal Mitte April mit Verweis auf namentlich nicht genannte arabische Geheimdienstmitarbeiter berichtet hatte, fehlen der Terrorgruppe dadurch tatsächlich zunehmend die Mittel, um ihre Anhänger zu bezahlen. Die Hamas-Mitarbeiter seien "hauptsächlich auf humanitäre Hilfe angewiesen, die auf dem Schwarzmarkt gegen Bargeld verkauft" worden sei, wird in dem Bericht Moumen al-Natour, palästinensischer Anwalt und Bewohner im Gazastreifen, zitiert.
Riskant und gegen den Willen der Bevölkerung
Mittlerweile gehen nach Angaben Hilfsorganisationen
die letzten Vorräte aus. Gaza werde zum "Massengrab
für
Palästinenser", warnte
vergangene Woche Ärzte ohne Grenzen. Damit zum zweiten
Problem: Mit seiner Blockade riskiert Israel weitere Klagen vor
internationalen Gerichten. Unter anderem die Vereinten Nationen werfen Israel vor, mit der
Blockade der Hilfsleistungen gegen das humanitäre Völkerrecht zu verstoßen. Demnach muss Israel für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen den ungehinderten Zugang zu Nahrung, Wasser und
medizinischer Versorgung gewähren. Seit vergangener Woche läuft dazu ein
Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof IGH in Den Haag. Der Internationale Strafgerichtshof IStGH hat
bereits einen Haftbefehl gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu
wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen verhängt.
Das Vorgehen Netanjahus ist das dritte Problem: Der umstrittene Premier erklärte wiederholt, den Krieg im Gazastreifen gar nicht beenden zu wollen. Die Hamas auszuschalten, habe Vorrang vor der Freilassung der Geiseln, sagte Netanjahu Mitte vergangener Woche in einer Rede. Kritiker, darunter Tausende Kriegsveteranen und ehemalige Reservisten, werfen Netanjahu dagegen vor, den Krieg aus politischen Gründen fortzusetzen. Wie Umfragen seit Wochen zeigen, will die Mehrheit der Bevölkerung eine Waffenruhe und einen neuen Geiseldeal. Vergangene Woche protestierten in Tel Aviv 5.000 Menschen gegen den Krieg. Das ist weiterhin eine kleine Gruppe angesichts von rund zehn Millionen Einwohnern, aber dennoch die größte Zahl an Teilnehmenden seit Kriegsbeginn.
Insgesamt wirkt der Krieg damit weiterhin festgefahren in seiner Aussichtslosigkeit. Zumindest mit Blick auf die Hilfslieferungen könnte es Medienberichten zufolge einen Strategiewechsel geben. Wie ebenfalls die Times of Israel am Freitag berichtete, plant der neue Armeechef Eyal Samir eine Lockerung der Blockade der Hilfsgüter. Statt der Armee sollen demnach wieder internationale Hilfsorganisationen und private Sicherheitsdienste die Lebensmittel direkt an Großfamilien im Gazastreifen verteilen − und damit die Machtstruktur der Hamas umgehen. Innerhalb der Armee sei man sich der drohenden Hungerkrise bewusst, heißt es in dem Bericht.