Moshe Zimmermann: "Deutschland ist mit Israels Regierung übervorsichtig"

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Ein großer Krieg mit Iran folgt der Logik von Israels Regierung, sagt der Historiker Moshe Zimmermann. Um diese aufzubrechen, müsste Europa handeln. Auch Deutschland.

8. Oktober 2024, 6:13 Uhr

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 Premier Benjamin Netanjahu und Herzi Halewi, der Generalstabschef der israelischen Armee, im Lagezentrum in Jerusalem
Premier Benjamin Netanjahu und Herzi Halewi, der Generalstabschef der israelischen Armee, im Lagezentrum in Jerusalem © [M] ZEIT ONLINE, Foto: Israeli Prime Minister's Office/​Handout /​Anadolu/​Getty Images

ZEIT ONLINE: Herr Zimmermann, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts. Erschüttert Sie die jetzige Eskalation noch?

Zimmermann: Es lässt mich schaudern. So etwas gab es bislang nicht. Israel ist gewohnt, Kriege sehr schnell zu gewinnen. Sie dauern eine Woche, zwei Wochen. Jetzt haben wir einen langen Krieg. Das Schlimme ist, dass man sich auch daran gewöhnt. Die Menschen, die entlang der Grenze zu Gaza und die, die entlang der Nordgrenze gelebt haben – sie mussten alle evakuiert werden. Andere stehen unter Beschuss. Man hat sich auch daran gewöhnt, dass so viele Menschen getötet werden.

ZEIT ONLINE: Auf beiden Seiten.

Zimmermann: Die Israelis denken vorrangig an ihre eigenen Bürger, an die am 7. Oktober Ermordeten und die, die danach im Kampf oder bei Terroranschlägen getötet wurden. Es gibt aber auch noch viel mehr Tote in Gaza, im Westjordanland oder im Libanon. Man muss staunen: Wie kann man im 21. Jahrhundert immer noch zur Waffe greifen und glauben, damit etwas zu erreichen?

ZEIT ONLINE: Gäbe es denn derzeit überhaupt eine andere Möglichkeit, Israel zu schützen?

Zimmermann: Diese Frage hätte man sich vor dem 7. Oktober stellen müssen. Selbstverständlich gibt es Frieden, wenn man sich mit den Nachbarn verständigt. Schauen Sie auf die Geschichte Europas: Frankreich war Deutschlands Erzfeind, Feindschaften gab es überhaupt viele. Sie führten zu Kriegen mit Millionen von Toten. Heute gibt es nahezu dieselben Grenzen in Europa wie damals, aber die Bedrohung ist, abgesehen von Russland seit einem Jahrzehnt, nicht mehr da. Weil die Menschen in Europa begriffen haben, dass man nicht jeden Konflikt mit der Waffe lösen muss. Das ist im Nahen Osten bislang nicht passiert. Das Problem ist auch, dass diejenigen, die sich vor dem 7. Oktober um diese Region hätten bemühen müssen, das nicht ausreichend getan haben.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Zimmermann: US-Präsident Barack Obama hat es 2014 aufgegeben, auf eine Zweistaatenlösung zu drängen. Nach Obama hat niemand mehr energisch und ernsthaft genug versucht, den Teufelskreis zu durchbrechen. Europa lehnt sich ohnehin zurück.

Vernunft spielt in diesem Teufelskreis eine kleinere Rolle. Moshe Zimmermann

ZEIT ONLINE: Die Israelis leben seit Jahrzehnten mit der Sorge eines großen Krieges mit Iran. Israel, sagte Premier Netanjahu, verteidige sich inzwischen an sieben Fronten: gegen die von Iran unterstützte Hisbollah im Libanon, Hamas in Gaza, Huthis im Jemen, gegen schiitische Milizen im Irak und in Syrien, gegen Terroristen im Westjordanland. Was bedeutet diese Eskalation?

Zimmermann: Die Schuld an den vielen Fronten trägt zu großen Teilen Netanjahu selbst. Er hat versucht, die Palästinenser zu ignorieren. Wenn wir aber nicht mit den Palästinensern leben können oder neben ihnen, dann werden sich andere in diesen Konflikt einmischen. So entstehen noch mehr Fronten gegen Israel.

ZEIT ONLINE: Es fällt angesichts der Feindseligkeit gegen Israel in der Region schwer, sich einen anderen, realistischen Weg vorzustellen.

Zimmermann: Die Israelis betrachten die Situation des Von-außen-angegriffen-Werdens als Schicksal. Sie sagen: Die anderen sind böse, die anderen wollen uns hier nicht haben. Deswegen müssen wir uns verteidigen, so wie Netanjahu das will. Aber so ebnet man keinen Weg zu einer Verständigung, wie es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist. Es braucht deshalb Unterstützung von außen, um die Kontrahenten doch zur Verhandlung zu führen, sogar zu zwingen. Man darf aber nicht naiv sein! Die arabische Gesellschaft ist eher israelfeindlich. Israel ist wiederum erzogen, die Umgebung als Feind zu betrachten, weil sie als Feind betrachtet werden muss.

ZEIT ONLINE: Wie könnte denn unter diesen Umständen ein erster Schritt auf dem Weg zur Versöhnung aussehen?

Zimmermann: Israel hat schon mehrmals Frieden geschlossen, 1979 mit Ägypten, der größten arabischen Macht in der Region. 1994 mit Jordanien. Es ist also möglich. Israel hat auch Abkommen mit den Palästinensern getroffen, vor 30 Jahren beispielsweise das Gaza-Jericho-Abkommen. Es führte zur Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde. Schritte in Richtung einer Verständigung kann man also immer gehen. Wenn man aber sagt, dass es nichts bringt, wie Netanjahu das tut, wird das zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Das führt nur dazu, dass wir jetzt, angeblich, an sieben Fronten kämpfen.

ZEIT ONLINE: Premier Netanjahu hat einen Vergeltungsschlag gegen den Iran angekündigt. Die Antwort auf die Bombardierungen Israels werde beachtlich sein, sagte er. Wird es zu einem großen Krieg kommen?

Zimmermann: Ein großer Krieg entspräche der Logik dieser Regierung: Wer nicht auf einen Angriff des Iran reagiert, gilt ihr, salopp gesagt, als Weichei. Ich rechne deshalb mit einem Vergeltungsschlag. Vernunft spielt in diesem Teufelskreis eine kleinere Rolle. Es ist jetzt die Aufgabe der Amerikaner, Israel dazu zu bewegen, eine Art von Vergeltung zu üben, die nicht unmittelbar eine noch größere Vergeltung seitens des Irans bringt.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, Sie halten eine Intervention der USA für sinnvoll. Von wem noch?

Zimmermann: Die Vereinten Nationen hätten sich mehr um Frieden bemühen müssen. Die UN melden sich nur, wenn es um die Flüchtlinge und um die Lage in Gaza und im Libanon seit Kriegsbeginn geht. Sonst bleibt sie nur bei Friedensrhetorik, mehr nicht. Es wäre aber ihre Aufgabe und die der Großmächte, mehr zu unternehmen. Israel wurde, vor allem im vergangenen Jahr, von der internationalen Staatengemeinschaft mehr und mehr isoliert. Natürlich ist das Interesse Israels, sich jetzt auf Verhandlungen einzulassen, deshalb nicht besonders groß. Es wäre auch Aufgabe der Europäischen Union, sich einzumischen. Denn Israel ist ja eine europäische Schöpfung.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?

Zimmermann: Die Menschen, die nach Israel auswanderten, kamen zum Großteil aus Europa. Israel liegt in der europäischen Nachbarschaft, Israels Werte waren – und vielleicht sind sie das noch heute – mit den europäischen Werten zu vergleichen. Europa müsste sich engagieren, ist aber in sich gespalten. Es wäre eigentlich Deutschlands Aufgabe, als größter Staat in Europa, hier zu führen.

ZEIT ONLINE: Deutschland sieht sich dazu nicht in der Lage.

Zimmermann: Ich komme gerade zurück aus Berlin. Der "Durchschnittsdeutsche" scheint der Meinung zu sein, dass die Deutschen die Letzten sind, die etwas tun können. Israels Sicherheit ist bekanntlich deutsche Staatsräson. Sie glauben, die israelische Regierung keineswegs unter Druck setzen zu dürfen, weil man ihnen dann Antisemitismus vorwirft. Die deutsche Außenministerin und der Regierungschef haben Israel zwar besucht, aber sie können oder wollen nicht mehr bewegen. Dazu kommt: Wenn man es mit dem Aufstieg von Sahra Wagenknecht zu tun hat, also mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt ist, dann ist Israel nicht das große Thema. Da ist der Russland-Ukraine-Krieg wichtiger. So spielt Deutschland in der Nahostpolitik eine noch kleinere Rolle, als es müsste, und versteckt sich hinter der Europäischen Union.

ZEIT ONLINE: Finden Sie das feige?

Zimmermann: Ich würde das nicht feige nennen. Selbstverständlich kann man mutiger sein. Ich als Historiker kenne die deutsche Geschichte vor 1945 und die nach 1945, die Überlegungen der Bundesrepublik, die Hemmungen. Deshalb werde ich das nicht feige nennen. Aber: Deutschland ist mit Israels Regierung übervorsichtig.

ZEIT ONLINE: Das israelische Militär warnt im Libanon nicht vor Angriffen, wenn sie der gezielten Tötung des Hisbollah-Kaders dienen, weil die Angriffe angeblich präzise genug seien. Aber auch die Vorwarnungen, die die Zivilbevölkerung vor breiteren Schlägen bekommt, sind oft sehr kurzfristig. Es sterben viele Zivilistinnen und Zivilisten. Was bedeuten Ethik und Völkerrecht noch im Nahostkonflikt?

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