„Mirage“: Tanztheater von Jalet und Nawa auf Kampnagel

vor 23 Stunden 2

Damien Jalet geht seit Beginn seiner Karriere als Tänzer und Choreograph immer wieder Kollaborationen ein, darunter einige mit bildenden Künstlern, die aus der leer gelassenen Tanzbühne einen Ausstellungsraum machen. Zum wiederholten Male arbeitet er nun mit dem japanischen Künstler Kohei Nawa zusammen, der dem Tanz auch jedes Mal Boden abnimmt. Jalets Choreographien bespielen dann Krater oder steile Wände, und die sozialen Räume des Tanztheaters öffnen sich für die Natur. Die Natur holt sich den menschlichen Körper in einer Art Ritual zurück.

Hier wiederholen sich endlos Schicksale

Licht, Nebel, Projektionen, Vertiefungen im Boden oder aufragende Wände bilden künstliche, virtuelle Landschaften. In ihnen erscheinen die Tänzer, um mit den Phänomenen zu verschmelzen. Sie tauchen tief in das Theatererlebnis ein. Sie entfalten sich darin, gehen darin auf, treten anders daraus hervor. Sie bilden miteinander neue, vielgliedrige, vielköpfige Körper, Dyaden von großer Konzentration auf den anderen oder aus mehreren arm- und beinverschlungenen Gruppen. Darin erscheinen sie zugleich sehr nackt und sehr menschlich und auch eigenartig verfremdet, wie mythologische Wesen oder wunderschöne Dämonen.

Aus einer fremdartigen, supranatürlichen Welt? Das Ensemble in „Mirage“ auf Kampnagel.Aus einer fremdartigen, supranatürlichen Welt? Das Ensemble in „Mirage“ auf Kampnagel.Rahi Rezvani

Das neue Werk von Damien Jalet und Kohei Nawa heißt „Mirage“ und ist nach „Vessel“ von 2016, „Mist“ von 2021 und „Planet (wanderer)“ von 2023 die vierte gemeinsam geschaffene Inszenierung. Sie ist wohl auch die technisch anspruchsvollste und visuell geheimnisvollste. Die horizontal von Portal zu Portal verlaufende Wand ist dieses Mal halb bühnenhoch und steht etwas nach hinten versetzt. In einer von künstlichem Dunst und Halbdunkel beherrschten Landschaft wie auf dem Mond erklettern die 14 Tänzer die Wand und steigen auf unsere Seite der schrägen Spielfläche herab. Ihre Gänge und Blicke sind wie ein Bild eines ganzen Lebens mit allen seinen Begegnungen, all seinen Möglichkeiten und verpassten Gelegenheiten.

Ganze Geschichten liegen in der Art und Weise, wie die Tänzer langsam, langsam umhergehen und nebeneinander stehen bleiben, sich passieren mit einem langen Blick über die Schulter. Sie tragen Menschenkleider in dieser in Sepialicht getauchten Szene, die etwas von einem Stummfilm aus der Zukunft hat. Thomas Bangalters klopfende, dröhnende, scharrende Musik verstärkt das Gefühl, hier wiederholten sich endlos Schicksale, die einander auf unheimliche Weise gleichen.

Wie eine Installation, in großer Gruppe betrachtet

Dann beginnt die leuchtende, die glitzernde, schimmernde, rieselnde, dampfende, an Bergflüssen aus Bühnennebel spielende, die silbrige und in warme edelmetallische Töne getauchte Glückshälfte. Jalet und Nawa haben sie aus Mathematik und Physik geschaffen, halb aus realen Materialien, halb aus Projektionen und Chemikalien. Es ist eine fremdartige, unwirkliche und supranatürliche Welt. In ihr regnet es glitzernde Schauer oder Wasserfälle aus Partikelchen. In ihnen stehen die Tänzer und fangen sie auf mit ihrer Haut, bis sie in biologisch abbaubare leuchtende Schlangenhaut gehüllt sind.

 Einer von Damien Jalets Solisten in „Mirage“.Als wäre er dem Feuer entstiegen: Einer von Damien Jalets Solisten in „Mirage“.Rahi Rezvani

Eine Göttin sitzt mit gekreuzten Beinen in einem Stroboskopschauer blitzartiger Erleuchtung. Sitzend bildet die große Tänzergruppe einen metallenen Lindwurm aus menschlichen Gliedern. Es ist wie eine Installation, die man in einer großen Gruppe betrachtet. Man könnte sich das Werk auch in einer großen Museumshalle vorstellen.

Er kommt immer wieder zurück

Kampnagel ist erst der zweite Spielort, herausgekommen ist „Mirage“, das so viel wie Luftspiegelung, Trugbild oder Fata Morgana bedeutet, vor einem Monat am Grand Théâtre de Genève. Hier ist Sidi Larbi Cherkaoui Ballettdirektor und hat 2022 gleich Jalet als seinen Residenzchoreographen präsentiert, die beiden sind engste Weggefährten. Die beiden choreographieren jeder für sich, aber einige wichtige Werke haben sie gemeinsam geschaffen. Fast ein Vierteljahrhundert liegt die Premiere ihres großartigen Männerquartetts zurück, das die beiden mit Luc Dunberry und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola kreierten und in dem sie alle zusammen auftraten. In Anzüge gekleidet sangen sie a cappella und zeigten ihren rauen, akrobatischen und berührenden Tanz. An der Berliner Schaubühne wurde das Stück ein großer Erfolg.

Eines der besten, lustigsten, ironischsten, packendsten Tanztheaterstücke des zwanzigsten Jahrhunderts schufen Jalet und Cherkaoui mit „Babel (words)“ 2010. Es tourte jahrelang um den Erdkreis, man wünschte, es könnte immer von einem Ensemble irgendwo gespielt werden. Ihre phantastische Arbeit mit Marina Abramovics Bühne für eine Choreographie zu Maurice Ravels „Bolero“, 2013 an der Pariser Oper, kommt auch wieder zurück. So kommt auch Jalet immer wieder zurück zu seinem Tanz, seinem Theater, seiner Kunst und verschwindet nicht in den Welten des Films – er choreographierte „Emilia Perez“ – oder der Popmusik, nicht einmal für Madonna.

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