Schwindet das Interesse an den Geschichten über Außenseiter, Sonderlinge und Verlierer? Die Biennalen, Grammys und Oscars unserer Zeit deuten darauf hin. Anstatt zu irritieren, will Kunst ihr Publikum ermutigen, und dieses will bestätigt werden. Ungehört bleiben dabei jene, die nur selten Teil des Publikums sind. Die trotz der Vielzahl an Identitäten, die Kunst heutzutage repräsentiert, durchs Raster fallen. Gemeint sind die Übriggebliebenen, die hinter den gesellschaftlichen Fortschritt zurückgefallen sind oder sich durch die Wahl einer bestimmten „Profession“ selbst an den Rand der Öffentlichkeit stellen.
Einer, der für diese gebrochenen Stimmen ein Ohr hat, ist der österreichische Musiker Voodoo Jürgens (gebürtig David Öllerer). Auf seinen bisher erschienenen drei Alben schenkt er jenen seine Aufmerksamkeit, die bei all den Errungenschaften der Moderne, von der Künstlichen Intelligenz bis hin zu alkoholfreiem Wein, um ihren Platz in dieser Welt fürchten müssen. Unterstützt wird er dabei von der talentierten Band „Ansa Panier“, deren Name mit viel Bauchweh als „Erste Panade“ zu übersetzen wäre. Sie besteht aus den Musikern Bernd Lichtscheidl, Matthias Frey, David Schweighart, Martin Dvoran und Alexander Kranabetter.
Dialekt wieder in Mode
Zusammen bespielen Sie jenes Genre, das sich grob als „Neuer Austropop“ einordnen lässt und Dialektgesang als Charakteristikum aufweist. Obwohl auch der Begriff Wienerlied passend erscheint, bildet dessen Nähe zu der historischen Aufführungspraxis der Schrammelmusik, die stets Geige und Knopfharmonika aufweist, ein zu enges Korsett für die modernen Kompositionen von Voodoo Jürgens. Doch ob Wienerlied oder Austropop: Seit dem Tod von Georg Danzer schienen beide aus der Mode gekommen zu sein. Zu nah lag wohl der Verdacht, Dialektgesang würde bloß die eigene Heimat verklären. Dass genretypische Lieder vor allem in Après-Ski-Bars skandiert wurden, trug dazu bei. Umso mehr überraschte es, als im Sommer 2016 ganz Wien Voodoo Jürgens’ ersten Hit „Heite grob ma Tote aus“ sang. Nach anfänglich berechtigter Sorge war klar, damit waren nicht nur Wirtshausleichen gemeint, sondern ein ganzes musikalisches Genre.
Andocken konnte er dabei an den zeitgleich eintretenden Erfolg der Wiener Band Wanda sowie des Musikers Der Nino aus Wien. Es war ihr Verdienst, das Genre wieder für die Popkultur satisfaktionsfähig gemacht zu haben. Ein Jahr zuvor hatte Nino zusammen mit dem Musiker Ernst Molden das Austropop-Coveralbum „Unser Österreich“ veröffentlicht. Voodoo Jürgens ergänzte das Genre durch seine Inszenierung als verruchter Wiener mit Vokuhila, Schnauzbart und zu viel offenen Hemdknöpfen. Sein Name war schnell in Österreich bekannt, und seine Songs wurden aus dem Studio des Jugendkulturradios FM4 bis zu den Feuerwehrfesten im ländlichen Raum getragen.
Trotz des sprachlichen Gefälles ist Voodoo Jürgens auch hierzulande bekannt. Obwohl Strophen wie „die Bim fohrt noch Simmering, I kauf da an Fohrschein, I brich das des Gnack und du steigst in dein Sorg ein“ für viele nach einer Reanimation des Langobardischen klingen mögen. Der vielfältige Einsatz von Horn, Klavier, Violine bis hin zu E-Gitarre und Bass verweist jede gesangliche Dominanz ohnehin in ihre Schranken. Der erzeugte Klang ließe sich wohlwollend als nuanciert-derb charakterisieren. Würden Zuschreibungen wie „atmosphärisch“ nicht so abgegriffen wirken, wären sie hier angemessen. Inmitten einer verspielten Klangkulisse, die sowohl Anleihen bei Helmut Qualtinger als auch den Bad Seeds macht, taucht dann ein charmanter Voodoo Jürgens auf, der seine Stoffe mit solcher Güte und Nachsicht bearbeitet, dass jeder Verdacht auf Süffisanz fernliegt.
Der Begriff „Kunstfigur“ wäre bei Voodoo Jürgens unzutreffend, denn er lässt vermuten, dass sich hinter dieser noch wer anderes verbirgt. Wer jedoch Jürgens’ autobiographischen Song „Tulln“ kennt, weiß, dass ihm die Menschen und Milieus, von denen seine Musik handelt, nicht fernliegen. So verweben sich die Personen David Öllerer und Voodoo Jürgens zu einem Amalgam, das den Kanon auf überzeugende Weise mit Erfahrungen anreichert.
Musikalische Alltagsgeschichten
Viele seiner Lieder sind Charakterstudien, die Geschichte, von der das Stück „Ollas nimma deins“ handelt, scheint dabei weniger Zeugnis einer beneidenswerten Imaginationskraft als einer alltagssoziologischen Beobachtungsgabe zu sein. Die erste Strophe führt uns folgendermaßen in die Handlung ein:
Du sitzt auf ana Parkbank
Und denkst wehmütig zruck an die guade oide Zeit
„Ollas woa besser damois“ sogst, „mit heite ka Vagleich“
Die oide Partie, die si beim Wirtn im Fuchzehntn troffn hod
Do kann i ma sicher sein, dass ihr nix auslassn hobts
Das „sogst“ markiert, dass Voodoo Jürgens hier die Erinnerungen von jemand anderem arrangiert und dabei zwischen direkter und indirekter Rede springt. Wir erfahren, dass der Protagonist sich früher öfters beim Wirt im „Fuchzehntn“, also dem 15. Wiener Gemeindebezirk, getroffen hat, dem ärmsten Wiens. Bevor man aber übergeht, sich nun einen typischen „Hackler“ (Arbeiter) zu imaginieren, gibt Voodoo über Umwege Aufschluss über die soziale Herkunft.
Waunns Reibarein gebn hod, hobts as eich untranaund ausgmocht
Do hätt Kaner in Fisch aussezaht (den Fisch rausgezogen)
Die Geschäfte san grennt und a jeder hod sei Hockn ghobt
„Reibarein“ sind Konflikte, die untereinander ausgemacht werden, ohne Hinzunahme der Exekutive. Dass die Geschäfte gelaufen sind und jeder seine Arbeit hatte, suggeriert eine Milieuzugehörigkeit zur Wiener Unterwelt. Deren Vertreter, oftmals schmierige Kleinkriminelle mit Wiener Charme, die entweder mit Schwarzmarktware ihr Geschäft machen oder bei illegalen Kartenspielen in Kaffeehaus-Hinterzimmern den großen Verdienst suchen, sind nicht selten Thema in den Songs von Voodoo Jürgens, besonders ausgeprägt in der bereits zitierten Nummer „3 Gschichtn ausn Cafe Fesch“.
Im Falle von „Ollas nimma deins“ gibt sich der Protagonist, vielleicht ein Verbrecher oder ein „Strizzi“ (Zuhälter) seiner Nostalgie hin. Mit dem Signalwort „Reibarein“ setzt die Ansa Panier zu spielen an, und die langsam gestrichene Violine erweckt ein Gefühl von Schwermut.
Was nun folgt, ist der Rückblick auf eine Biographie im Sinkflug. Wir erfahren, dass der Protagonist in Anbetracht einer neuen Generation von Delinquenten seinen Einfluss am Wiener Asphalt langsam dahinschwinden sieht. Von der nachvollziehbaren Erkenntnis, dass man heutzutage nicht mehr „buttawach“ (high) in der „Hockn“ (Arbeit) erscheinen kann, geht Voodoo über zu einschneidenderen Veränderungen der Gegenwart. Manche Kollegen sind verstorben, andere eingesperrt.

Wenn dann der Refrain, „sche laungsam is des ollas nimma deins“ ertönt, regt sich plötzlich Mitleid mit der Person auf der Parkbank, von der man doch, so unbescholten man sich eben fühlt, nicht wissen will, was sie alles auf dem Gewissen hat. Die Vereinsamung, die immer wieder durchklingt, die wünscht man doch niemandem. Fast fühlt man mit, wenn geschildert wird, wie neue Leute den ehemaligen Platzhirsch am Wiener Gürtel verdrängen.
Aber ewig rennts ned und es sads wia die Wiafln gfoin
Am Giartl haums eich oglest (der Wiener Gürtel ist die meistbefahrene Straße Wiens und ein bekannter Drogenumschlagplatz)
Die nächste Partie hod si wichtig gmocht
Du sogst es is obnormal, dass an Wirtn nochn aundan zuadrahn
Und du kennst kan mehr in dein Stammlokal
Man denkt an junge Kleinkriminelle, welche die Regeln des alten Verbrecherhandwerks missachten, die das Straßengeschäft mit Designerdrogen fluten und verschlüsselte Handys benutzen. Am Ende des Songs bleibt ein alter, gebrochener Desperado zurück, der nicht mal mehr im Wirtshaus seinen Frust gegen ein paar Gläser G’spritzte tauschen kann – wohl weil seit Corona die meisten zugesperrt haben.
Voodoo Jürgens löst mit diesem Lied auf eigenartige Weise die Distanz auf, die real zwischen den halbseidenen Protagonisten und seinen kulturell interessierten Hörern besteht. In urbanen Biotopen wie Wien oder Frankfurt verliert man viel zu schnell den Blick für das andere. Dafür braucht es Künstler, die solche fremden Stimmen nicht hochstilisieren, sondern ihren Eigenheiten angemessen Rechnung tragen. Wer Voodoo Jürgens’ Lieder bloß als satirische Bekundungen einer längst ausgestorbenen Gesellschaftsschicht wahrnimmt, hat ihren Kern verfehlt.
Voodoo Jürgens: „Ollas nimma deins“
Du sitzt auf ana Parkbank
Und denkst wehmütig zruck an die guade oide Zeit
„Ollas woa besser damois“ sogst, „mit heite ka Vagleich“
Die oide Partie, die si beim Wirtn im Fuchzehntn troffn hod
Do kann i ma sicher sein, dass ihr nix auslassn hobts
Waunns Reibarein gebn hod, hobts as eich untranaund ausgmocht
Do hätt Kaner in Fisch aussezaht
Die Geschäfte san grennt und a jeder hod sei Hockn ghobt
Buttawach vom Vuatog in di Oabeit gaungan
Friaha host des mochn kennan
Waunnst des heite mochst
Frogns di, obst deppat bist
Und du bist dei Hockn los
Es is ewig schod, dass an nochn Aundan aufgstöllt hod
A Poa san gsturbn, a Poa san eigsperrt wurn
Und sche laungsam, ja sche laungsam
Is des Ollas nimma deins
Du dazöhst ma von an Happo, der hod rechtzeitig
Die Kurven krotzt
Er hod si in Guatemala a klans Heisl kauft
Des häddast a gern gmocht
Oda da Zuckerlpeda, mit da guadn Woa
Ja, mit den bist öfta in Zehntn gfoahn
Da hobts kiloweis die Shitkantn ghoit
Der Hund, der hod sis urdntlich gebn
Aber ewig rennts ned und es sads wia die Wiafln gfoin
Am Giartl haums eich oglest
Die nächste Partie hod si wichtig gmocht
So sogst es is obnormal, dass an Wirtn nochn aundan zuadrahn
Und du kennst kan mehr in dein Stammlokal
Und sche laungsam, ja sche laungsam
Is des Ollas nimma deins
Lyrics von der Seite genius.com, vom Autor angepasst