Sie gelten als gut integriert, fleißig, familienorientiert – aber sie sollen auch gerne Wodka trinken, Putin lieben und die AfD wählen. Und dann wäre da noch ihre mysteriöse russische Seele. Mit etwa 2,5 Millionen Menschen gehören die Russlanddeutschen zu den größten Einwanderergruppen hierzulande. Die meisten von ihnen sind bereits in den Neunzigerjahren aus verschiedenen postsowjetischen Ländern gekommen, doch ist in der Mehrheitsgesellschaft – abseits von Klischees – wenig über sie und ihre bewegte Geschichte bekannt.
Das möchte die russlanddeutsche Journalistin Ira Peter ändern. In ihrem Buch räumt Peter in sechzehn thematisch gegliederten, fundiert recherchierten Kapiteln mit Vorurteilen auf. Es gelingt ihr, ihre persönliche Familienerzählung und die kollektive russlanddeutsche Geschichte, aber auch Gegenwart auf mitreißende Weise miteinander zu verknüpfen – mal hochemotional, mal ironisch, aber dabei stets mit der nötigen Distanz und vor allem sachkundig. Bereits vor zwei Jahrzehnten begann Peter sich mit der russlanddeutschen Thematik auseinanderzusetzen, die inzwischen der Schwerpunkt ihrer journalistischen Arbeit ist. Bekanntheit erlangte sie nicht zuletzt durch ihren Podcast „Steppenkinder“, den sie gemeinsam mit Edwin Warkentin von 2020 bis 2024 moderierte.
Versprechen von Religions- und Steuerfreiheit
Ira Peter, Jahrgang 1983, verbrachte ihre Kindheit in einem Dorf in der Nähe der heutigen kasachischen Hauptstadt Astana. Zusammen mit ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern wanderte sie 1992 als Spätaussiedlerin nach Deutschland aus. Peters Großeltern waren Wolhyniendeutsche, deren Vorfahren um 1861 herum aus Ostpreußen und dem Habsburger Reich in das in der heutigen Westukraine gelegene Gebiet gezogen waren. In jenem Jahr hatte der Zar die Leibeigenschaft abgeschafft, und es mangelte an Arbeitskräften.
Andere Deutsche hatte es schon früher aus Armut oder aufgrund religiöser Verfolgung an verschiedene Orte des Russischen Reichs verschlagen – ans Schwarze Meer etwa, in den Kaukasus oder an die Ufer der Wolga. Bereits 1763 hatte sich die deutschstämmige Kaiserin Katharina die Große in ihrem Kolonistenbrief an ihre Landsleute gewandt und sie eingeladen, die wenig erschlossenen Gebiete ihres Imperiums zu besiedeln. Die Herrscherin lockte sie mit Versprechen von Religions- und Steuerfreiheit, Selbstverwaltung sowie einer Befreiung vom Militärdienst. Ihr Enkel, Alexander I., setzte diese Politik Anfang des neunzehnten Jahrhunderts fort. So konnten die deutschen Siedler ihre Dialekte und ihre Bräuche über lange Zeit bewahren.
Die Bürokratie legte den Russlanddeutschen viele Steine in den Weg
Mit dem Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Jahr 1941 begann ein dunkles Kapitel für die Russlanddeutschen: Rund 1,2 Millionen Personen wurden damals laut Angaben des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Viehwaggons gepfercht und aus ihren Siedlungsgebieten nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Die sowjetische Führung nahm sie für den Überfall des Dritten Reichs auf die UdSSR in Sippenhaft, sie mussten fortan Sklavenarbeit verrichten. Viele starben bereits auf dem Weg oder später an Kälte, Hunger oder Krankheiten. Bis ins Jahr 1955, als man sie teilweise rehabilitierte, durften die Russlanddeutschen sich nicht frei bewegen. Doch auch danach mussten sie als vermeintliche „Faschisten“ Diskriminierung über sich ergehen lassen, kamen schwer an Wohnungen oder Studienplätze. Die endgültige Rehabilitierung erfolgte erst 1992 durch Jelzin.
Diese Gewalterfahrung befeuerte die Sehnsucht der Russlanddeutschen nach der alten Heimat, die in ihrer Imagination inzwischen paradiesische Anmutung angenommen hatte. Sie waren nicht nur Opfer des Stalinismus, sondern auch des Nationalsozialismus und hatten als solche in der BRD ein Anrecht auf einen deutschen Pass und Reparationszahlungen – als Wiedergutmachung.
Aufruf für mehr Verständigung
Doch im Land ihrer Vorfahren angekommen, wurden die Russlanddeutschen oft nicht als Deutsche, sondern als „Russen“ gesehen, denn über die Neuankömmlinge aus dem Osten wussten die „Binnendeutschen“ herzlich wenig. So bezeichnet Peter die Deutschen aus Deutschland im Gegensatz zu den Aussiedlern, die nicht nur aus der ehemaligen Sowjetunion, sondern zuvor auch schon aus Polen und Rumänien eingewandert waren.
Die Bürokratie legte den Russlanddeutschen viele Steine in den Weg. Ihre Bildungsabschlüsse wurden nicht oder nur nach jahrelangen Kämpfen anerkannt, wodurch sie beruflich abstiegen. Peters Mutter etwa ging putzen, trotz kaufmännischer Ausbildung, Berufserfahrung und großer Leistungsbereitschaft. Integration habe in Deutschland allein als Bringschuld gegolten, weiß Peter aus eigener Erfahrung. Man riet den Russlanddeutschen, Russisch klingende Namen einzudeutschen. So wurde aus Wladimir Waldemar, aus Jelena Helene. Lehrer legten es Eltern nahe, mit ihren Kindern ausschließlich Deutsch zu sprechen, selbst wenn sie es nur gebrochen beherrschten. Kurzum, man unterstellte ihnen, nicht „deutsch genug“ zu sein. Auf die erste Euphorie über die Rückkehr in die alte Heimat folgte so die Ernüchterung, und bei einigen als Antwort auf die gesellschaftliche Ächtung später eine Überidentifikation als „Russen“, als die sie gesehen wurden.
Die studierte Psychologin Peter diagnostiziert ihre russlanddeutschen Mitbürger liebevoll mit einer „postsowjetische Belastungsstörung“, die dafür verantwortlich sei, dass sie sich gerne in der Opferrolle sehen. Das sei angesichts der in der Sowjetunion erlebten Repressionen und der Startschwierigkeiten hierzulande verständlich, doch dürfe man deshalb diejenigen Aspekte der Geschichte, die nicht in dieses Bild passen, nicht aussparen. So hatten manche Russlanddeutsche tatsächlich mit den Nationalsozialisten kooperiert.
Das Buch bricht mit der typischen Opfererzählung, indem es die Resilienz der russlanddeutschen Gemeinschaft betont und nach vorne blickt. Außer wichtige Aufklärungsarbeit über die Russlanddeutschen zu leisten, die anders, als eine tendenziöse SWR-Dokumentation aus dem Jahr 2022 suggeriert, mehr als „fremde Nachbarn“ sind, ist es auch ein Aufruf für mehr Verständigung, für mehr Miteinander in Zeiten von Ausgrenzungen. Peter schreibt, sie verstehe sich weder als Besucherin in Deutschland noch als Opfer, sondern als Mitgestalterin der Gesellschaft. „Nur will ich nicht mehr gefragt werden, woher ich eigentlich komme.“ Schließlich sei die Frage, wohin sie gehen wolle, die interessantere.
Ira Peter: „Deutsch genug?“. Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen. Goldmann Verlag, München 2025. 256 S., geb., 22,– €.