Lucerne Festival: Kompromisslos in der Trauer wie der Hoffnung

vor 3 Stunden 1

Grundverschiedene Programme mit verschiedenen Dirigenten in unmittelbarer Nähe: solch eine Konstellation ist bestens geeignet, die Qualitäten eines Orchesters, seine Klangspezifik und Flexibilität ein- und hochzuschätzen. Das Lucerne Festival Orchestra trat nun beim Musikfest, dessen Namen es trägt, unter Riccardo Chailly mit Musik von Pierre Boulez und Gustav Mahler und nur einen Tag später, nun unter Andrés Orozco-Estrada, mit Antonín Dvořák und Modest Mussorgski in der Orchestrierung von Maurice Ravel an, wobei sich ein Gefühl einstellen konnte wie angesichts der nahezu gleich hohen, aber unterschiedlich geformten Gipfel des die Festivalstadt überragenden Pilatus-Massivs: das Erlebnis zweier Ausformungen des gleichen, imponierenden Höhenkammes.

Möglich wird das, weil dieses grandiose Ensemble ausschließlich aus Musikern besteht, die sich genau diesen Arbeitsort zur Ferienzeit freiwillig gewählt und darum gekämpft haben. Weil zudem viele so häufig wie möglich wiederkommen, verbindet sich die unroutinierte Frische des immer wieder neuen Anfangens mit einer dennoch stabilen Seelenbindung an Jean Nouvels grandiosen und akustisch feinfühligen KKL-Konzertsaal, an die über lange Jahre Seite an Seite ebenso präsenten Musikerkollegen des Kernteams und wohl auch, so darf man es rückblickend sagen in dem Moment, wo sie nach 26 Jahren in ihre letzten Wochen geht, an die klug temperierende und – hinsichtlich der notwendigen finanziellen Einwerbungen – netzwerkende Programmpolitik Michael Haefligers, in dessen Intendantenarbeit sich Innovationsfreude und Popularität, grüblerischer Laborgeist und zupackende Lebensoffenheit nicht polar gegenüberstanden, sondern auseinander hervorwuchsen.

DSGVO Platzhalter

Auch das eigene Orchester war 2003, in der Doppelpatenschaft Claudio Abbados und Haefligers, eine solch innovative Idee: ein Sich-Begegnen unter Musikern ähnlichen Geistes und interpretatorischen Hochniveaus. So teilen sich bereits von den Gründerjahren her, alle drei noch von Abbado berufen, Jens Peter Maintz, sonst rundum solistisch und kammermusikalisch ausgelastet, und Clemens Hagen aus dem Familienquartett das erste Cellopult, Reinhold Friedrich führt die Trompetengruppe.

Und wie nun der Letztgenannte in Ravels Instrumentation von Mussorgskis „Bildern einer Ausstellung“ nicht nur das Eröffnungs-Promenadensignal in einer kostbaren Mischung von Glanz und inniger Verhaltenheit intonierte, sondern später auch den armen Schmuyle im entsprechenden Teil grundjämmerlich quäken, winseln und sich winden ließ: das zeigte eine sonst selbst in Solokonzerten kaum erlebbare Differenzierungsfähigkeit.

Orozco-Estrada weiß um Finessen

Überhaupt stellte Orozco-Estrada, wissend um die Verfeinerungskünste der Musiker, alle Finessen, die der Franzose dem urwüchsigen Klavier-Original angedeihen lässt, gleichsam unter Flutlichtscheinwerfer mit (manchmal zu überdeutlich) betonten Zäsuren zwischen den einzelnen Abschnitten, demonstrativ sportlich ausgestellter Freude an den rhythmischen Hakeleien der schnellen Abschnitte und einer zu dämonischer Gewalt verdichteten Schlussapotheose.

Prägten hier die bildhaften Qualitäten der Musik das Erlebnis, so im Eröffnungskonzert ihre über das Klangliche hinaustretenden, tief Innermenschliches zum Reden bringenden Seiten. Jedenfalls galt das für Mahlers nicht mehr zu Ende gekommene und von Deryck Cooke zur Aufführungsreife eingerichtete 10. Symphonie. Was die Musiker und Chailly hier in erschütternder, sich von Satz zu Satz neu hingebender Weise ausspielten, war die gähnende Kluft zwischen der völligen Entleerung und dem aschigen Zerfall einstiger Bindekräfte und der dennoch verzehrenden Sehnsucht nach endgültiger Geborgenheit; nicht mehr Visionen und Sehnsüchte, sondern nur noch Visionen von Visionen und Sehnsüchte nach Sehnsüchten, Gesänge des unmöglich Gewordenen, in deren Trance man als Hörer förmlich hineingezwungen wurde, so dass das Ende des langen Abends nach Mahlers finaler, ins Endlose ragender Resignation trotzdem gleichsam zu früh kam, weil nicht nur Lust, sondern manchmal auch Schmerz nach Ewigkeit verlangen kann.

Elīna Garanča singt Mahlers Rückert-Lieder in LuzernElīna Garanča singt Mahlers Rückert-Lieder in LuzernManuela Jans/Lucerne Festival

Dass es für solche Randbereiche menschlicher Emotionen auch interpretatorisch Entgrenzungen braucht und formelle Korrektheit jedenfalls zu wenig ist, hatten vor der Pause, gleichsam ex negativo, Mahlers Lieder nach Texten von Friedrich Rückert in der Darbietung von Elīna Garanča gezeigt. Wobei das Orchester auch hier schon mit kammermusikalisch gedämpftem Raffinement und delikaten Holzbläserfarben aufwartete, die aber an der marmorkühl glatten Ausstrahlung der Mezzosopranistin gleichsam abprallten: eine Enttäuschung. Wie anders da Isabelle Fausts Geigenspiel einen Abend später in Dvořáks Violinkonzert: nicht nur mit graziös-inniger, samtig weicher Tongebung, sondern auch in der Kommunikation mit dem Ensemble sowohl selbst impulsgebend als auch hellwach reagierend. Eine nochmals andere Variante solistischen Wirkens zeigte Lang Lang bei Felix Mendelssohn Bartholdys g-Moll-Klavierkonzert: in den schnellen Teilen kribbelig hypermobil, doch auch mit anrührenden, legato-blühenden Gesangsthemen, beeinträchtigt freilich durch einen ölig-exaltierten Habitus mirakulöser Verzücktheit.

Doch ohnehin war all das verschwunden wie eine schnelle Schaumaufwallung, als sich Daniel Barenboim und sein junges Ensemble, das West-Eastern Divan Orchestra, nach der Pause Ludwig van Beethovens „Eroica“ widmeten und hier, nach einem noch verhaltenen Kopfsatz, vor allem in der tragischen Größe des Trauermarsch-Adagios und der visionären Anspannung der Final-Variationen Töne einer unsentimental harten, in Trauer wie Hoffnung gleichermaßen geradlinig kompromisslosen Haltung vermittelten – tief bewegend im Zusammengehen der Generationen und dem gemeinsamen Einstehen für die durch Beethoven vermittelten, mehr denn je notwendigen Ideale einer humanen Weltordnung.

Boulez wird gewürdigt

Barenboims Künstlerfreund Pierre Boulez, der sich dem auf all seinen Wirkungsfeldern gleichermaßen verpflichtet fühlte, findet im Jahr seines 100. Geburtstages ebenfalls umfangreiche Würdigung – so gleich im Eröffnungskonzert mit seiner aphoristisch verdichteten „Mémoriale“-Trauermusik; expansiv ausgebreitet dagegen das „Livre pour quatuor“, bei dessen kristallographischen, oft spinnwebfeinen Strukturen das hervorragende Arditti-Quartett allein für den vierten Satz über eine Stunde intensiv tätig werden musste.

Mit seinen immer wieder abgebrochenen, neu aufgegriffenen und umgeformten Stücken ist Boulez ein naturgegebener Pate für das diesjährige Leitmotto „Open End“, das gleichzeitig und zu Recht für die Ära Haefliger steht: ein Vierteljahrhundert immer neuen Ansetzens und Modifizierens, auch in diesem Jahr nochmals mit einer Orts-Neuheit in Gestalt der mobil-temporären, aufblasbaren „Ark Nova“-Konzerthalle (4. bis 14. September). Solch sprudelnder Kreativgeist macht es jedem Nachfolger schwer – man wird hören und sehen müssen: Open End eben.

Gesamten Artikel lesen