Berliner Staatsbibliothek: Sind Millionen Karteikarten wirklich überflüssig?

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Wer an Bibliotheken denkt, macht sich meist kaum Gedanken über deren Arbeitsmittel. Man gibt im Handy auf der App der jeweiligen Bibliothek in den E-Katalog ein, was man braucht, bestellt oder holt das Werk gleich aus dem Regal. Doch woher kommen die Informationen in diesen wunderbaren elek­tronischen Katalogen? Für Werke, die vor der Einführung jener elektronischen Fassung vor etwa dreißig Jahren angeschafft wurden, im Normalfall aus gigantischen, seither abgeschriebenen „Zettelkatalogen“ des „Altbestands“. Also von Karteikarten. Ihre streng gereihten Karteikästen in riesigen Sälen und engen Fluren sind das gern gezeigte und gefilmte Abbild eines in Jahrhunderten aufgebauten Versuchs, Ordnung in das menschliche Wissen zu bringen.

Aber wenn es nach Achim Bonte, dem Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz geht, wird der dortige Zettelkatalog bald nicht mehr existieren. Angesichts der immensen Bedeutung, die die „Stabi“ für die deutsche Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Forschung hat, ist das keine lokale Petitesse. Zwar antwortete der Kulturstaatsminister auf eine entsprechende Anfrage der F.A.Z. nicht, und die neue Präsidentin der Stiftung, Monika Ackermann, delegierte die Antwort auf das Thema zurück an den Urheber, eben Bonte. Doch nach Meinung seiner Kritiker in der Staatsbibliothek, und derer gibt es inzwischen offenbar viele, droht ein Kahlschlag von historischen Dimensionen.

Die Container sind schon bestellt

Im Gespräch mit der F.A.Z. bestätigte Bonte, dass die Container schon bestellt seien, in denen wortwörtlich Millionen von Karteikarten zum Altpapier werden sollen. Er will die Zettelkataloge „makulieren“ lassen, in denen alle Erwerbungen ihrer Vorgängerinnen seit 1500 bis 1974 verzeichnet sind, jene, in denen die Deutsche Staatsbibliothek der DDR zwischen 1956 und 1991 ihre Erwerbungen aufnahm, außerdem die Kartei des Gesamtkatalogs der deutschen Bibliotheken, der von etwa 1905 bis 1943 in Berlin geführt wurde, sowie den nur hier existierenden „Ergänzungskatalog“ dazu. Die Kataloge der Musikalien-, der Ostasiatischen und der Orientalischen Sammlung seien nicht betroffen. Noch nicht, fürchten Bontes Kritiker.

Es geht längst nicht nur um eine technische Frage, sondern um die des bibliothekarischen Selbstbewusstseins: Was sind wir, wenn wir die Dokumente unserer Geschichte aufgeben? Und dazu gehören neben den als traditioneller Erfolgsnachweis hochgehaltenen Erwerbungsverzeichnissen – die auch Bonte erhalten will – gerade Zettelkataloge. Sie sind das Dokument der Macht von Bibliothekaren, Medien zu sortieren und damit zu bewerten, auch zu schützen etwa vor dem Zugriff der Politik. Der Generaldirektor dagegen betont: Die Titel- und Erwerbungsdaten seien seit vielen Jahren im elektronischen Katalog gesichert. Dieser sei auch mehrfach gedoppelt, um einen Datenverlust durch Hacker, gezielte Angriffe oder technisches Versagen zu verhindern.

Informationen, die nur hier zu finden sind

Doch auf den Karteikarten der Berliner Staatsbibliothek sind eben nicht nur die nüchternen Titeldaten, sondern handschriftlich oder mit Stempeln viele Informationen verzeichnet, die beim Abschreiben nicht in den elektronischen Katalog aufgenommen wurden. Sie sind nur noch hier zu finden. Es geht etwa um frühere Eigentümer, die Folgen von Enteignungen, Zensurvermerke aus der Nazi- und der DDR-Zeit. Wer etwa über die Architektur- und Designgeschichte der DDR und ihre Neuorientierung auf den westlichen International Style seit etwa 1960 forscht, kann hier – und oft nur noch hier – nachvollziehen, welche Fachbücher nach dem Mauerbau 1961 in der DDR überhaupt noch gelesen werden konnten – und wer Zugang hatte.

Auch standen diese Kataloge einst überwiegend in Ost-Berlin, die Bestände der Staatsbibliothek aber weitgehend in West-Berlin. Dass Ost-Bibliothekare West-Bibliothekaren klammheimlich halfen, verborgen vor der Stasi Karteikarten im Haus Unter den Linden abzuschreiben, um zu erfahren, was denn nun Kriegsverlust oder in der Sowjetunion geblieben ist, gehört zu den vielen legendären Wendungen der deutsch-deutschen Bibliotheksgeschichte. Diese Zettelkataloge sind also nicht nur ein einzigartiges Monument der Wissensgeschichte Preußens, sondern auch des Kalten Kriegs.

Das Haus Unter den Linden, einer von zwei Standorten der einstmals „Königlichen Bibliothek“.Das Haus Unter den Linden, einer von zwei Standorten der einstmals „Königlichen Bibliothek“.dpa

Auf den Mikrofiches, die Bonte als weitere Sicherung erwähnt, sind solche Vermerke oft kaum oder gar nicht zu lesen. Außerdem gibt es Mikrofiches nur von einem Teil der Kataloge der SBB. Und sie haben sich als hinfällig erwiesen, leiden mit jeder Benutzung, sind teuer im Ersatz.

Bonte betont wie alle Befragten in der Staatsbibliothek, dass der „Verlust“ der Zettelkataloge ein „tiefer Schmerz“ sei. Aber die Karteikästen stünden seit Jahren im Zentraldepot in Friedrichshagen im Keller. Dort würden sie fast nie genutzt. Allerdings weiß außerhalb der SBB kaum noch jemand, dass dieses historische Quellenmaterial noch existiert. Er habe trotzdem, so Bonte, seit vergangenem August einer innerbibliothekarischen Arbeitsgruppe die Gelegenheit gegeben, alternative Lösungen zu suchen. Aber diese habe keine Alternativen vorlegen können.

Es geht nur um 100 Quadratmeter Fläche

Doch der Bericht der AG, der der F.A.Z. vorliegt, lehnt nicht nur die Makulierung klar ab. Er zeigt auch bis in Arbeitsstunden und Quadratmeterangaben durchgerechnete Alternativvorschläge, bis hin zur Angabe einzelner Räume in den Häusern der Stabi, in die dieser und jener Teilkatalog gestellt werden könne. Möglich seien so die schlichte Lagerung, die provisorische Nutzung, aber auch die Reaktivierung. Von außen gesehen liest sich das Papier übrigens angesichts der gigantischen Häuser, über die Bonte verfügen kann, durchaus erstaunlich: Gesucht wurden kaum 100 Quadratmeter Stellfläche.

Eine weitere Alternative wäre das Fotografieren der Karteikarten vor der Makulierung, um die Informationen wenigstens digital-bildlich zu sichern. Die Kommission hat das für den Bestand der Medien, die zu DDR-Zeiten erworben worden waren, auch kalkuliert: Ganze 57.000 Euro würde das kosten. Andererseits hat Bonte schon jetzt kein Geld mehr. Die viel zu wenig debattierte radikale Ausgabensperre der Stiftung Preußischer Kulturbesitz führt dazu, dass aktuell nicht einmal neue Medien oder Zeitschriftenreihen erworben werden können. Da der Bundestag der Staatsbibliothek 1996 unsinnigerweise das Recht auf ein unentgeltliches Pflichtexemplar jeder Publikation in Deutschland entzog, ist selbst diese Erwerbungsquelle verschüttet.

Bald beginnt die teure Grundsanierung

Die Instandhaltungs- und Personalkosten steigen ständig, bald soll die mehr als eine Milliarde kostende Grundsanierung der Neuen Staatsbibliothek am Kulturforum beginnen. Sie muss dafür nach Angaben der Bauverwaltung auf etwa zehn Jahre vollständig geschlossen werden. Noch gibt es keinen Ausweichplatz für Mitarbeiter und Forscher. Es soll aber möglichst wenig Raum angemietet werden, auch habe sich, so Bonte, das kostensparende Projekt der Mitnutzung des einstigen Kaufhauses Galeries Lafayette an der Friedrichstraße zerschlagen. Hier hätte auch die Berliner Zentralbibliothek einen neuen Standort finden können, aber die Lokalpolitiker vor allem der SPD zerredeten die in der Fachwelt bejubelte Idee.

Um also die anstehenden Räumarbeiten zu bewältigen, benötige er, so Bonte, den Platz, den die Kataloge einnähmen. Andererseits: Wenn das Milliarden-Umbauprojekt an 100 Quadratmetern Fläche scheitern kann, gibt es offenbar ganz andere Probleme als das der Kataloge zu lösen.

Bonte hat, wie er durchaus stolz erzählt, schon als Direktor der Dresdner Staats- und Universitätsbibliothek und davor in Heidelberg deren Zettelkataloge auflösen lassen. Sollte Makulierung also sein „Signature Move“ sein, das Erkennungszeichen einer vornehmlich auf Modernisierung, nicht auch auf Geschichtsbewusstsein angelegten Managementauffassung? Jedenfalls ist dies eine große Ausnahme, wenn man auf vergleichbare National- und Staatsbibliotheken schaut. Auf Anfrage teilte etwa die Library of Congress in Washington, die größte Bibliothek der freien Welt, mit, dass man selbstverständlich bei aller Raffinesse des Onlinekatalogs auch an den Zettelkatalogen festhalte. Ähnlich die Bibliothèque Nationale in Paris, die Bayerische Staatsbibliothek, die Deutsche Nationalbibliothek und die Schweizer Nationalbibliothek. Auch in der Schwedischen Königlichen Bibliothek zeigt man mit Begeisterung die alten Zettelkataloge vor. Wegwerfen sei undenkbar.

Überall sind die Kernargumente die gleichen: Die in keiner reinen Titelerfassung dokumentierten scheinbaren Nebeninformationen sind so wichtig, dass die physischen Zettelkataloge erhalten bleiben müssen. Wir wissen nicht, was die Zukunft für Forschungsfragen bringt, also heben wir das Material auf. Vor allem aber: Die Kataloge zeigen, warum große Bibliotheken mehr sind als Bücherspeicher.

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