Wim Wenders zum 80.: Die Welt braucht Geschichten, keine Storys

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Bescheidenheit ist keine Zier, sondern eine alles durchdringende Haltung: Nur wer der eigenen Ich-Anziehung entkommt, vermag wirklich Neues zu sehen. Dass der Blick dabei gleichwohl von eigenen Erfahrungen, Ängsten und Sehnsüchten gekrümmt bleibt, ist kein Manko, sondern das, was die Auseinandersetzung mit dem Neuen individuell macht. Welche Zurückhaltung und welche Offenheit den visuellen Poeten Wim Wenders geprägt haben, auch als er längst berühmt war, das ist ein ums andere Mal zu hören in der ZDF-Dokumentation „Der ewig Suchende“ von Marcel Wehn, die Arte aus Anlass des achtzigsten Geburtstags des vielseitigsten deutschen Regisseurs seiner (an Regiegenies nicht eben armen) Generation ausstrahlt. Ganz dezent vier Tage verspätet.

Dass Wenders’ Bescheidenheit bis zur Schweigsamkeit reichen kann, führte schon zu kuriosen Situationen. Nick Cave etwa erzählt, wie der unvergessliche Auftritt der Bad Seeds mit dem den gesamten Film noch einmal emphatisch verdichtenden Song „From Her to Eternity“ in „Der Himmel über Berlin“ (1987) fast nicht zustande kam. Zweimal hatte Wenders den damals in Berlin lebenden Sänger zum Abendessen eingeladen, aber beide Male eigentlich nichts gesagt: „Eine seltsame Situation.“ Erst auf die Frage von Nick Cave, ob er ihn in dem Film denn dabeihaben wolle, habe er erfreut mit „Ja“ geantwortet. Hätte Nick Cave die Zurückhaltung als Desinteresse gewertet, hätte es einen der großen Momente der deutschen Filmgeschichte womöglich gar nicht gegeben.

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Marcel Wehn kennt Wenders genau. Bereits 2007 hat er eine noch bei Netflix abrufbare Dokumentation über das frühe Werk vorgelegt, in der etwa der medienscheue Peter Handke davon schwärmt, mit seinem Freund Wim wunderbar schweigen zu können. Der neue Film ist stärker als Rückblick angelegt, aber fast zu bescheiden in seinen filmischen Mitteln. Dass man Wenders in Hans Scharouns überwältigendem Bibliotheksgebäude interviewt, in dem bekanntlich eine entscheidende Szene von „Der Himmel über Berlin“ spielt, ist arg naheliegend. Brav chronologisch schreitet Wehn die wichtigsten Filme von Wenders’ Schaffen ab – von der romantischen Fabel „Alice in den Städten“ (1974), worin erstmals Wenders’ eigene Sprache erkennbar wurde, bis zu dem unerwartet erfolgreichen Spielfilm über einen japanischen Toilettenreiniger im Doku-Stil „Perfect Days“ (2023).

Es ist jedoch verständlich, einem Filmemacher mit so eigener Ästhetik nicht mit einem magisch-poetischen Porträt nacheifern zu wollen, sondern lieber auf Gespräche mit Wegbegleitern und Wenders selbst zu setzen. Die sind tatsächlich klug und hintergründig, können mit jenen in der deutlich größer produzierten Dokumentation „Wim Wenders, Desperado“ (2020) von Eric Fiedler und Campino mithalten. Immer schon hat Wenders gesagt, dass das richtige, wahre Erzählen für ihn nur eines sei, bei dem das Ende nicht feststehe. Es genüge, eine Anfangsszene zu haben und dann der Entwicklung sozusagen live mit der Kamera zu folgen. Das sagt er in etwa auch hier noch einmal.

Skeptisch blickt er deshalb nicht nur auf seine ersten, zu sehr nachahmenden Filme wie „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1971) zurück – „wie Hitchcock ohne Suspense“ –, sondern auch auf die meisten seiner in zwei Phasen entstandenen US-amerikanischen Produktionen (mit Ausnahme des Meisterwerks „Paris, Texas“, 1984). Er habe sich stets wie der Gefangene einer Story gefühlt, an sie gekettet durch die Produktionsbedingungen. Dann nähert sich die Dokumentation ihrem interessantesten Punkt: Wenders selbst konstatiert, dass diese Plotgläubigkeit längst nicht mehr auf die großen Hollywood-Studios beschränkt bleibe. Ohne Drehbuch werde nirgendwo ein Film finanziert: „So wird das meist zu Tode entwickelt. Dann schreibst du zehn Drehbücher, und am Ende weißt du selbst nicht mehr, was du eigentlich erzählen willst.“

Mag Wim Wenders auch das Beste am europäischen Kino verkörpern, ist bei Wehn zugleich klar, dass er für eine Freiheit und Anarchie steht, die es nicht mehr gibt. Das verleiht dem Rückblick einen melancholischen Grundton. Zum Schluss wirft der Film noch ein Schlaglicht auf Wenders’ Spätwerk, seine traumschönen Hommagen an künstlerische Seelenverwandte wie Pina Bausch, Sebastião Salgado (er konnte vor seinem Tod im Mai 2025 noch interviewt werden), Anselm Kiefer oder gegenwärtig Peter Zumthor. Er spürt darin ganz individuell den Antriebskräften dieser Künstler nach, offen und interessiert. „Es gäbe nichts Deprimierenderes für mich“, sagt der ewig Suchende, „als nichts mehr lernen zu müssen.“ Und so unwahrscheinlich es auch ist, klingt nichts an diesem Satz kokett, sondern alles nach Haltung.

Wim Wenders: Der ewig Suchende ab Montag in der Arte-Mediathek, um 22.35 Uhr auf Arte.

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