Von den frühen Sechzigerjahren an herrschte eine Hochstimmung in der Kunst, in London, in New York, die im Tanz bis in die Mitte der Achtziger anhielt. Denn der zeitgenössische Tanz schwamm auf dieser Welle der Kunstbegeisterung ganz oben. Eine ihrer bedeutendsten Protagonistinnen in einer stellaren Phalanx faszinierender Ballerinen in New York war Suzanne Farrell, die sehr jung, mit nicht einmal zwanzig, zu einer der engsten künstlerischen Weggefährtinnen von George Balanchine wurde. Der 1904 geborene und damit um vierzig Jahre ältere Exilrusse war, vertrieben von den Gefahren und Unwägbarkeiten der Revolution, zu Diaghilews „Ballets Russes“ nach Paris gekommen und später nach New York. Er brachte die über Jahrhunderte entwickelte alte Hochkultur des russischen klassischen Tanzes mit, ihre Verfeinerungen, ihre Eleganz, ihre Noblesse, ihre Technik. Das war die monumentale Basis, auf der er zu experimentieren begann, indem er die Zeit dehnte und raffte, sie anhielt und weiterlaufen ließ.
Wie unwahrscheinlich muss es heute scheinen, dass eine junge Frau aus der amerikanischen Provinz und ein von seiner Kindheit an für das Ballett lebender altwerdender Mann sich so unfassbar gut verstehen, dass sie einander stetig besser machten. Farrell sagte einmal, sie habe sich ernstgenommen und älter gefühlt, wenn die beiden zusammenarbeiteten, und Balanchine sei durch ihr Zusammensein scheinbar verjüngt worden, denn sie hätten sich wechselseitig immer als gleich alt, irgendwo in der Mitte ihrer beider Lebensalter, empfunden.
Ein legendäres Zusammenspiel
1965 manifestierte sich das in einer jener Jahrhundert-Aufführungen, von denen Nachgeborene nur sagen können, sie wünschten, sie wären dabei gewesen: „Don Quichote“, in dem Farrells Kitri dem von Balanchine getanzten alten Phantasten den Arm um die Schulter legt und ihn von der Bühne führt. Sie ist berührt von seiner Verehrung und zu empathisch, um seine Illusionen mit einem Schlag zu zerstören.
Balanchine war in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht der einzige Tänzer und Choreograph, der auf dem Cover des „Time Magazin“ landete, aber in seinem Fall war es ein Zeichen auch der Anerkennung dafür, dass dieser Künstler Amerika mehr gab, als Amerika ihm gegeben hatte, wie Farrell formulierte. Die „School of American Ballet“ war die Basis dessen, was er zu geben hatte. Für sie erhielt Suzanne Farrell 1960 ein Stipendium. Balanchine bildete dort auf dem bis zu seiner Ankunft ballettfremden Kontinent seine eigenen Tänzer aus. Und die, die er nicht ausbildete, lockte er aus Europa fort, so wie etwa Violette Verdy aus Paris. Es war eine Zeit, in der die berühmtesten Compagnien der Welt Stücke von Balanchine spielten, und jeder wusste, wer er war und wie er die große Geschichte seiner Kunst fortschrieb. Wie es dieser enge Freund Igor Strawinskys in seinen Balletten machte, dass man die Musik sehen und den Tanz hören konnte.
Aus der Provinz auf die Weltbühne
Farrell kam nicht aus Europa, sie war ein Kind Cincinnatis, und ihre Mutter hatte zum Glück Augen, die die enorme Bewegungsbegabung erkannten. Also bestand Farrells Kindheit nicht nur aus Schwimmen, Segeln und Rollschuhfahren, sondern auch aus Ballettunterricht am Konservatorium ihrer Heimatstadt. Das Entscheidende aber war, dass ihre Mutter sie eines Tages packen ließ und sie nach New York fuhr, um sich in Balanchines Schule vorzustellen. Farrell hatte Fotos gesehen, sie kannte Namen von Tänzern. Mit ihrer besten Freundin hatte sie viele Nachmittage zu Hause im Wohnzimmer auf Spitzenschuhen umhergetanzt. Die beiden Sessel, die die Pas-de-deux-Partner der Mädchen darstellten und in die sie sich hineinwarfen am Ende der Schwanensee-Variation, trugen die Namen zweier berühmter Tänzer: Michael Somes vom Royal Ballet in London und Jaques d’Amboise.
D’Amboise wurde dann ihr erster Partner und enger Freund, als sie in die Compagnie aufgenommen wurde. Er erkannte wie Balanchine das Charisma von Farrell: „Develish, daring and dangerous“ habe sie getanzt, mit dämonischem Feuer, Wagemut und Lust an der Gefahr. Sie selbst beschrieb das mit einem Wort, das Balanchine sie gelehrt hatte: „abandonment“, für das man im Deutschen die Begriffe Hingabe, Selbstvergessenheit und Hemmungslosigkeit zusammendenken muss. Dann begreift man aber ganz gut, wie Farrell tanzte, wie sie ihren Tanz der Musik anvertraute und sich selbst dem Tanz. So konnte sie sie selbst sein. Diese unglaubliche Begabung übte jeden Tag in Balanchines Klasse wieder hunderte von battements tendues, den kleinen, über den Boden schleifenden Fußstreckungen weg vom Körper. Sie, die heute achtzig wird, lehrt sie zusammen mit Balanchines abandonment noch immer, das ist das Wichtigste.