Filmfest Locarno: Die zarte Besonderheit der weißen Schnecke

vor 3 Stunden 1

Wie ein tibetischer Mönch steht er da, angetan mit einem bodenlangen, pechschwarzen Talar, die Hände zur Begrüßung gegeneinandergehalten. Jackie Chan, dieser Tausendsassa des Hongkong-Kinos, war nach Locarno gereist, um den Leoparden für seine über sechzigjährige Karriere entgegenzunehmen. Dabei ist Chan gerade einmal 71 Jahre alt. Einigkeit, Frieden und Glück wünschte er den 8000 Zuschauern auf der Piazza Grande und verschwand schnell von der Bühne. Was für ein bescheidener, zurückhaltender Mann. Der mehrminütige Ausschnitt mit Actionszenen aus seinen zahlreichen Filmen zeichnete da ein anderes Bild. Mit bewunderungswürdiger Körperbeherrschung und eleganter Grazie vollführte Chan todesverachtende Stunts, rutschte an gläsernen Hochhausschrägen hinunter oder hängte sich an fahrende Busse, deren Passagiere ihm mutwillig auf die Finger klopften. Einmal fiel sogar eine Hauswand auf ihn, mit einem offenen Fenster genau an der richtigen Stelle – so wie in Buster Keatons ­„Steamboat Bill, jr.“. „Er ist eine Mischung aus Buster Keaton, Bruce Lee und Stan Laurel“, befand Giona A. Nazzarro, künstlerischer Leiter des Festivals, in seiner Laudatio. Die Brücke zwischen Stummfilmkomödie und moderner Action ist geschlagen.

Jacki Chan posiert mit seinem "Pardo alla Carriera" in LocarnoJacki Chan posiert mit seinem "Pardo alla Carriera" in Locarnodpa

Der Wettbewerb – hier liefen achtzehn Filme – konnte mit diesem Glamour nicht mithalten, gleich mehrere Enttäuschungen verbargen sich hinter geschätzten Regienamen. Abdellatif Kechiche zum Beispiel, der 2013 mit „Blau ist eine warme Farbe“ überzeugte. Sein neuer Film „Mektoub, My Love: Canto Due“ – die vorangegangenen Teile „Canto Uno“ und „Intermezzo“ sind in Deutschland nicht gelaufen – ist eine oberflächlich-banale Phantasie darüber, dass es jeder, auch ein Einwanderer aus dem Maghreb, im Filmbusiness schaffen kann. 200.000 Dollar sei sein Drehbuch wert, sagt ein amerikanischer Produzent dem 25 Jahre alten Amin, der gerade frisch von der Uni in Paris nach Sète zurückgekehrt ist und nun vom großen Kino träumt. Allerdings müsse die Ehefrau des Produzenten die Hauptrolle spielen. Amins Cousin interessiert sich zu sehr für die eingebildete, abenteuerlustige Fernsehschauspielerin und löst damit eine Katastrophe aus, deren Melodramatik fast ans Lächerliche grenzt. Das ist weder mutig noch erkenntnisreich.

Dracula von KI erfunden bei Radu Jude

Ein anderer Name, eine weitere Enttäuschung: Radu Jude. Mit „Do not Expect Too Much of the End of the World“ hatte der rumänische Regisseur vor zwei Jahren noch das Festival gerockt. Doch mit seinem neuen Film „Dracula“, einer knapp dreistündigen Dekonstruktion des berühmten Mythos, setzt er sich zwischen alle Stühle. Jude lässt einen fiktiven Regisseur am Küchentisch mit einer KI reden, die nun – mit einigen wenigen Vorgaben – Dracula-Storys erfindet und bebildert. Doch die Episoden, von der Vampirjagd bis zur Störung eines Streiks, kommen visuell viel zu glatt daher, als dass man sie ernst nehmen könnte. Eine anstrengende, wilde und ungeordnete Tour de Force durch die jahrhundertelange Entstehungsgeschichte des Mythos entspinnt sich, vollgestopft mit Zitaten aus Romanen und der Filmgeschichte. Da muss sich sogar Murnaus „Nosferatu“ den Missbrauch als Werbeclip gefallen lassen. Noch irritierender ist aber Judes Phallusfixiertheit. Da treiben fliegende Dildos ihr Unwesen. Nur frivol ist dann doch zu wenig.

 Der japanische Regisseur Sho MiyakeGewinner: Der japanische Regisseur Sho MiyakeEPA

Nicht ganz leicht machte es dem Zuschauer auch Alexandre Koberidze, bekannt für „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ (2021). In seinem neuen Film „Dry Leaf“ schickt er einen alten Mann namens Irakli auf die Suche nach dessen Tochter. Sie wird vermisst, obwohl sie eigentlich eine Nachricht hinterlassen hat. Als Fotografin hat sie vor allem Fußballplätze in georgischen Dörfern aufgenommen. So macht sich Irakli auf von Stadion zu Stadion. „Zur Realität dieses Films gehört es, dass eine Person nicht zu sehen ist, obwohl sie da ist“, informiert ein Erzähler den Zuschauer aus dem Off. Das muss man wörtlich nehmen, und es ist nicht die einzige Besonderheit dieses Films. „Dry Leaf“ ist so unscharf wie ein schlechter Youtube-Stream, die Bilder verschwimmen, extreme Nahaufnahmen geben keinen Aufschluss mehr. Koberidze wehrt sich bewusst gegen die Perfektion und Schärfe von HD-Bildern, sei es im Kino, sei es im Fernsehen, seine Bilder scheinen zu tanzen und zu leben. Eine eigenwillige, aber auch frustrierende Seherfahrung – selten wurde man im Kino über drei Stunden hinweg so sehr daran gehindert, zu schauen und zu erkennen. Der Jury war „Dry Leaf“ trotzdem eine spezielle Erwähnung wert, dazu gewann der Film den Fipresci-Preis der Internationalen Filmkritik. Der Goldene Leopard für den besten Film ging hingegen an „Tabi to Hibi (Two Seasons, Two Strangers)“ des japanischen Regisseurs Sho Miyake. Es geht darin um zwei unbeholfene Begegnungen von Mann und Frau, eine im Sommer, eine im Winter.

Ein leichter, verschroben humorvoller Film

Julian Radlmaiers „Sehnsucht in Sangerhausen“, einer von mehreren deutschen Filmen im Wettbewerb, erzählt von zwei jungen Frauen, deren Wege sich in dem kleinen, ostdeutschen Ort des Filmtitels zufällig kreuzen. Da ist Ursula, frühmorgens Reinigungskraft in einem Möbelladen, tagsüber Kellnerin in einem Café. Sie verliebt sich in eine schöne Musikerin, doch die ist am nächsten Morgen verschwunden. Neda ist eine iranische Youtuberin, die vor laufender Kamera Reiseberichte einspricht. Gemeinsam begeben sie sich auf Geistersuche in den nahen Bergen. Einen leichten, verschroben humorvollen Film hat Radlmaier inszeniert, der aber auch Ausländerfeindlichkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse thematisiert. Es ist Wahlkampf, im Radio sind Friedrich Merz und Christian Lindner zu hören. Die Begegnung einer Deutschen und einer Iranerin, mit einem koreanischstämmigen Vater plus frechem Schulbuben im Schlepptau, ist darum eine schöne Utopie.

Der Spezialpreis der Jury ging an die österreichisch-deutsche Ko-Produktion „White Snail“ des Regieduos Elsa Kremser und Levin Peter, die Schauspieler des Films, Marya Imbro und Mikhail Senkov, wurden als beste Darsteller ausgezeichnet. Imbro spielt das belarussische Model Masha, das sich zu einem Pathologen hingezogen fühlt, der nachts in einer Leichenhalle arbeitet und tagsüber absurde Bilder malt. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebenswelten machen sie dieselben Erfahrungen von Ausgrenzung und Einsamkeit in einer restriktiven Gesellschaft, es geht um Körper und ihre Schönheit, um die Liebe und den Tod. „White Snail“ war ein seltener Lichtblick im Wettbewerb von Locarno, mit ausdrucksstarken Bildern und einer fast schon magischen Atmosphäre.

Gesamten Artikel lesen