Lissabon entwickelt sich zum Zentrum zeitgenössischer Kunst

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Neugierig schnattern die Enten im Park. Sie haben die neue Anlage, zu der auch ein Teich gehört, sofort in Besitz genommen. Großeltern spielen im Schatten von Bäumen mit ihren Enkeln, Studenten haben sich auf dem Rasen zum Lernen niedergelassen, Manager machen hier Mittagspicknick. Der Gulbenkian-Campus ist für die Einheimischen von Lissabon ein Rückzugsort, wie es ihn hier nur selten gibt. Allein die Flugzeuge, die im Landeanflug über das Laubdach der Bäume hinwegdonnern, erinnern an die Touristenmassen, die sich in immer mehr Vierteln der portugiesischen Hauptstadt ausbreiten.

Zu der Stiftung des armenischen Ölmagnaten Calouste Gulbenkian gehören zwei der bedeutendsten Museen des Landes. Doch mindestens genauso wichtig ist für viele die Grünanlage. Sie ist größer geworden, seit das Centro de Arte Moderna (CAM) im Herbst 2024 wieder öffnete. Die Stiftung hatte den Garten mit hohen Bäumen erwerben können, um weiter zu wachsen. Überhaupt lassen Mäzene den äußersten Südwesten Europas auf­blühen.

Der japanische Architekt Kengo Kuma versteht seine Erweiterung des 1983 errichteten Zentrums für Moderne Kunst als Einladung: Die Besucher sollen zur Ruhe kommen und sich den Ort zu eigen machen. Inspiriert vom japanischen Engawa-Konzept öffnet Kuma das Museum auf beiden Seiten zu den Gärten. Er sieht „eine nahtlose Verschmelzung, in der Architektur und Natur miteinander sprechen“ sowie „das Prinzip von Sanftheit und Übergang, das sich auch im Inneren fortsetzt.“ In Paris hatte er zuletzt mit seinem lichtdurchfluteten Metro-Bahnhof Saint-Denis-Pleyel Aufsehen erregt.

Im Schatten schwingender Vorbauten

Kuma ist ein Wanderer zwischen japanischer und westlicher Bautradition. Wie ein runder Schiffsbauch aus dunklen Eschenholzplanken wirkt die Unterseite der beiden großen Wellen, die Kuma im neuen Garten an den Originalbau branden lässt. Die schwingenden Vorbauten bieten Schatten, während ihre Oberfläche weiß in der Sonne schimmert. Sie ist mit handgefertigten traditionellen Azulejos bedeckt, wie sie in Portugal viele Häuser­fassaden zieren. Auf den ersten Blick er­innern sie an einen Reptil-Panzer – oder an die Paneele eines Solarkraftwerks. Portugal gehört bei der Nutzung erneuerbarer Energiequellen weltweit zur Avantgarde.

Das neue, rund hundert Meter lange und 15 Meter breite Vordach ruht auf fili­granen v-förmigen Stahlstützen. Für die Tragwerksplanung war Buro Happold in Berlin verantwortlich. Transparenz und Of­fenheit kennzeichnen auch den hohen gläsernen Eingangstrakt, der einen Durchblick in beide Gärten gewährt. Den Haupteingang verlegte Kuma von der Nord- auf die Südseite. Die Grundstruktur des ursprünglichen kastenartigen Betonbaus des britischen Architekten Leslie Martin blieb weitgehend unangetastet. Im Inneren entfernte Kuma jedoch so viele Wände wie möglich. Neue Fenster lassen mehr Licht herein und erlauben Blicke ins Grüne – wie durch einen großen Bilderrahmen.

 das CAM GulbenkianWo Besucher zur Ruhe kommen sollen: das CAM GulbenkianCAM/Fernando Guerra

Zur Eröffnung des CAM wurde zunächst die Hauptgalerie bis hinauf zu den kantigen Stahlträgern für eine Installation von Leonor Antunes leer geräumt. Die Portugiesin, die in Berlin lebt, hat auch die Ausstellung im Zwischengeschoss mit den Werken von 13 Künstlerinnen aus den Beständen des Museums kuratiert.

In diesen Tagen sind die Portugiesin Paula Rego und die Brasilianerin Adriana Varejão Protagonistinnen im CAM. Es ist ein packender und oft verstörender Dialog zwischen zwei Frauen aus unterschied­lichen Generationen. Rego floh aus Por­tugal und starb 2022 in London, Varejão ist Jahrgang 1964. Beide lebten in Dik­taturen; Portugal kolonialisierte einst Brasilien. Es geht um Herrschaft, Unter­drückung – von Völkern wie von Frauen und deren Körpern. Rego war in Portugal eine Vorkämpferin für das Recht auf Abtreibung. Im neu geschaffenen „Engawa Space“ erzählt Julian Knoxx aus Sierra Leone die Geschichte der afrikanischen Diaspora in neun europäischen Städten.

Die Gulbenkian-Stiftung gehört zu den Pionieren in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Portugals. In den langen Jahren der Diktatur, die 1974 mit der Nelkenrevolution endete, war sie der wichtigste Schutzraum in Lissabon für zeitgenössische Künstler. Paula Rego stellte dort in den Sechzigerjahren zum ersten Mal in Portugal aus.

Für jeden Geschäftsabschluss ein Kunstwerk

Der Stifter Gulbenkian, Sohn einer armenischen Familie und schon 1955 in Lissabon gestorben, war als „Mister Five Percent“ bekannt; neben den Rockefellers war er eine der einflussreichsten Figuren im internationalen Ölgeschäft. Es heißt, er habe sich nach jedem erfolgreichen Geschäftsabschluss ein Kunstwerk gegönnt. Gulbenkian vermachte den größten Teil seines Vermögens und seine riesige pri­vate Sammlung der Stiftung, die auch die Erweiterung des CAM finanzierte. Ge­genüber, auf der anderen Seite des Parks, sind die Stiftung und Gulbenkians Kollektion in einem Gebäude in reinem portugiesischem Brutalismus untergebracht; es wird gerade renoviert.

Als Gulbenkian sich in Portugal niederließ, war das Land bitterarm und inter­national isoliert. Heute wachsen Wirtschaft und Städte, die Touristenzahlen steigen. Auch viele wohlhabende Aus­länder zieht es in das kleine Land. Reiche Portugiesen sind selbst zu Sammlern und Mäzenen geworden. Einer von ihnen ist Armando Martins. Er hängte in diesem Jahr sein Lieblingsbild in seinem Wohnzimmer ab und präsentiert es nun in dem neuen Museum, das er neu bauen ließ: das Ölgemälde „A Mulher da Laranja“ (Frau mit Orange) aus dem Jahr 1913, gemalt von Eduardo de Viana, einem der Begründer der portugiesischen Moderne.

Selbstbewusst hat der Maschinenbau­ingenieur und Immobilienentwickler sein Museum Macam genannt, dies steht für Armando Martins Museum für zeitgenössische Kunst. Ursprünglich wollte er sich am Tejo-Ufer vom katalanischen Stararchitekten Ricardo Bofill ein neues Gebäude dafür bauen lassen. 2006 kaufte er dann, nicht weit vom Fluss entfernt, den zerfallenden Palácio Condes da Ri­beira Grande aus dem 18. Jahrhundert. Für mehr als 50 Millionen Euro ließ er ihn in den vergangenen Jahrzehnten renovieren und in ein Museum verwandeln. Da noch Platz war, zog auch ein Fünf-Sterne-Hotel ein, die profanierte Kapelle dient als Bar.

Er sei süchtig nach Kunst, hat der 1949 geborene Martins in einem Interview gesagt, mit 18 Jahren habe er zu sammeln begonnen. Bis heute gebe er jedes Jahr bis zu einer halben Million Euro für seine Leidenschaft aus. Der Unternehmer profitiert vom Immobilienfieber, das Lissabon allerdings für immer mehr Portugiesen unbezahlbar werden lässt. Mehr als 600 seiner Kunstwerke macht er in dem alten Palast für alle zugänglich. Weitere Werke zieren die 64 Zimmer des nach eigenen Angaben ersten Museumshotels in Portugal und Europa. Die Übernachtung kostet zwischen 300 und 600 Euro. Die Einnahmen aus Hotel und Restaurant sollen eines Tages die laufenden Kosten des Museums decken.

Es ist eine neue Kunstinsel in der Stadt entstanden, die aus allen Nähten platzt. Im Innenhof des Macam plätschert ein Skulpturenbrunnen. Von oben ist das Summen der Autos und Züge zu hören, die auf der „Brücke des 25. April“ über den Fluss fahren. Ein großer weißer Hirsch von Miguel Branco thront neben der Terrasse. Der Neubau auf der Rück­seite des ziegelroten Palastes spielt mit portugiesischen Bautraditionen. Die Fassade ist mit filigranen dreidimensionalen Fliesen der Keramikerin Maria Ana Vasco Costa verkleidet.

Dauerausstellung im historischen Hauptgebäude

Zwei Sonderausstellungen unterstreichen die Ambitionen Martins. Eine befasst sich im neuen Trakt mit den Auswirkungen des menschlichen Handelns auf den Planeten. Im Obergeschoss hängt ein Nachbau von „Little Boy“. Die gleichnamige Atombombe hat João Louro mit eingravierten Botschaften versehen. In der zweiten Schau geht es um Krieg und Geld. Von Fábio Colaço ist ein trauriger Elon Musk in Öl zu sehen.

Der Neubau des Macam spielt mit portugiesischen Bautraditionen. Die Fassade ist mit filigranen dreidimensionalen Fliesen verkleidet.Der Neubau des Macam spielt mit portugiesischen Bautraditionen. Die Fassade ist mit filigranen dreidimensionalen Fliesen verkleidet.MACAM/Fernando Guerra

Das historische Hauptgebäude, vor dem die Touristen-Straßenbahn nach Belem stoppt, beherbergt die permanente Sammlung: Im linken Flügel ist in chronolo­gischer Ordnung portugiesische Malerei vom späten 19. Jahrhundert bis in die Siebzigerjahre ausgestellt. Auf der rechten Seite finden sich in thematischer Ordnung Werke portugiesischer und in­ter­nationaler Künstler.

Zwischen Hängebrücke und Tejo-Mündung wächst ein regelrechtes Kunstquartier heran. Vom Macam ist es nur ein kurzer Spaziergang bis zur Cordoaria nacional, der ehemaligen Seil­fabrik der Marine. Dort machte Anfang Juni die große iberische Kunstmesse Arco Station für ihren jährlichen Abstecher nach Lissabon. „Durch den Zuzug von vielen reichen Ausländern hat sich auch die Sammlerszene vor Ort vergrößert, davon profitieren auch kleinere Galerien. Viele von ihnen haben in den letzten zwei Jahren neu eröffnet“, sagt Jana Binder, die das Goethe-Institut in Lissabon leitet.

Vom neuen Macam ist es nicht weit zum Museum für Kunst, Architektur und Technik (MAAT) neben einem alten Kraftwerk am Tejo-Ufer. Und ganz in der Nähe des Centro Cultural de Belém mit der Berardo-Sammlung öffnete im Juni der „Pavilhão Azul“. Der Blaue Pavillon war einmal ein Lebensmittellager. Nun erinnert dort ein neues Solomuseum an Julião Sarmento, der vor wenigen Jahren gestorben ist und ebenfalls Sammler war.

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