Der ukrainische "Spinnennetz"-Angriff ist auch ein politischer Erfolg: Er zieht Russlands strategische Tiefe und Eskalationsdominanz in Zweifel. Der Wochenrückblick
6. Juni 2025, 19:09 Uhr
Die Operation "Spinnennetz", die Attacke ukrainischer Drohnen auf Russlands Bomberflotte, hat wie kaum eine Operation davor Reaktionen voller Superlative ausgelöst: Von der "bisher größten Attacke auf nukleare Fähigkeiten eines Atomstaats" (Bulletin of the Atomic Scientists) ist die Rede, einem "Wendepunkt für den Luftkrieg" (Center für Strategic & International Studies, CSIS), der "Schockwellen bis an die Spitze der russischen Führung" ausgelöst habe (The War Zone).
Dabei sind die bislang gesicherten Erkenntnisse über die Folgen des Drohnenangriffs hinter den vom ukrainischen Geheimdienst SBU geweckten Erwartungen zurückgeblieben. Von 41 zerstörten oder schwerbeschädigten Flugzeugen hatte er am Sonntagmittag gesprochen, einem Drittel der russischen Flotte an atomwaffenfähigen strategischen Bombern, die binnen weniger Minuten ausgelöscht worden sei. Das ist, nach bisherigem Erkenntnisstand, deutlich übertrieben.
Doch schon die bestätigten russischen Verluste des 1. Juni sind beachtlich genug. Zwölf zerstörte Flugzeuge sind auf Satellitenbildern der vier angegriffenen Militärflugplätze erkennbar, darunter elf Bomber der Typen Tu-95 und Tu-22M. Weitere drei Bomber sind erheblich beschädigt, ein Transportflugzeug ebenfalls zerstört. Mindestens 23 angegriffene Flugzeuge zählt das finnische Analystenteam BlackBird Group auf Satellitenbildern und bisher veröffentlichten Videoaufnahmen der Angriffe.
Mit elf zerstörten Bombern hat Russland zwar nicht, wie vom SBU behauptet, ein Drittel, aber mindestens ein Zehntel seiner Flotte verloren: Sie umfasst 120 Maschinen der Typen Tu-95, Tu-22M und Tu-160. Laut verschiedenen Schätzungen sind nur 70 bis 100 von ihnen einsatzfähig; bis auf die Tu-160 werden sie seit Jahrzehnten nicht mehr produziert. Zwar behauptete das russische Verteidigungsministerium, alle attackierten Flugzeuge würden repariert. Das ist bei Betrachtung der Satellitenfotos von einigen der vollkommen ausgebrannten Wracks allerdings kaum vorstellbar.
Wegen des hohen Alters der meisten Modelle – die Tu-95 stammt aus den Fünfzigerjahren – befindet sich ein großer Teil der Flotte permanent in Wartung. Die Tu-95 und Tu-22M-Bomber werden dennoch regelmäßig bei Angriffen mit Marschflugkörpern auf die Ukraine eingesetzt, selten mehr als zehn gleichzeitig. Damit bleibt die Flotte weiter in der Lage, ihre Bombardierungen fortzusetzen. Ein unmittelbarer militärischer Effekt auf den russischen Luftkrieg ist somit nicht zu erwarten.
Die politische Tragweite der Operation hingegen kann kaum überschätzt werden. Nicht nur stellte der SBU damit sein handwerkliches Können unter Beweis, sichtbar allein daran, dass die Operation in der Tiefe Russlands trotz monatelanger Vorbereitung geheim blieb. Der Angriff stellt zudem zwei weitverbreitete Annahmen über die russische Übermacht in diesem Krieg infrage: strategische Tiefe und Eskalationsdominanz.
Die Sehnsucht, Russlands strategische Tiefe aufrechtzuerhalten – also die große Distanz zwischen den Grenzen des Landes und seinem Kern – gilt seit Langem als Dauermotiv der russischen Machtpolitik in Europa. Sie ist Wladimir Putins eigentliches Argument gegen die Aufnahme von ehemaligen Ostblock-Staaten in die Nato und die EU.
Im Krieg gegen die Ukraine aber hat sich diese strategische Tiefe schon mehrfach als Schwachpunkt und nicht etwa Stärke Russlands offenbart: Die Größe des Landes erlaubt keine flächendeckende Luftverteidigung. Die Ukraine macht sich das seit Anfang 2024 mit ihren Drohnenangriffen zunächst auf Öllager und Raffinerien und später auf Militärstützpunkte und Flugplätze zunutze. Der Glaube an den Schutz durch Distanz trug auch dazu bei, dass nun auch die Tausende Kilometer von der Ukraine entfernten Flugplätze nicht gegen Angriffe geschützt waren. Mehr als 4.000 Kilometer Entfernung zur Grenze konnten den Flugplatz Belaja (allein dort wurden sieben Bomber zerstört und zwei beschädigt) nicht schützen. Einen weiteren Flugplatz in mehr als 6.000 Kilometer Entfernung griff die Ukraine offenbar nur deshalb nicht an, weil ein mit dafür vorgesehenen Drohnen beladener Lkw auf dem Weg dorthin in Flammen aufging.
Die sogenannte Eskalationsdominanz ist das zweite Konzept, mit dem häufig vor allem Anhänger einer Kompromisspolitik gegenüber Putin argumentieren, an dem die Angriffe vom Sonntag mindestens Rauchspuren hinterließen. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit, durch militärische oder wirtschaftliche Übermacht über die Intensivierung von Kampfhandlungen frei bestimmen zu können und die Gegenseite unter Druck zu setzen, ihr gar seinen Willen aufzuzwingen. Konkret in diesem Fall: Als atomare Supermacht werde sich Russland nie so stark unter Druck setzen lassen, dass man auf Zugeständnisse gegenüber Putins Begehrlichkeiten verzichten könne, so illegitim sie auch seien.
Wenig überraschend riefen russische Fernsehpropagandisten und Militärblogger schon kurz nach den ukrainischen Angriffen dazu auf, genau das unter Beweis zu stellen. Schließlich lasse die russische Nukleardoktrin einen Einsatz von Atomwaffen zu, sobald "kritisch notwendige" Elemente der russischen strategischen Streitkräfte, zu denen atomwaffenfähige Bomber gehören, angegriffen würden. Die Operation "Spinnennetz" sei eine "Fallstudie darüber, wie Russland auf Angriffe gegen ihre Atomstreitkräfte reagiert", schrieb etwa der Thinktank CSIS. Das Magazin Bulletin of the Atomic Scientists warnte gar vor einer Bedrohung der "globalen Sicherheit", da der Angriff bisherige Annahmen über die Verwundbarkeit von Atomstreitkräften widerlege.
Weniger alarmiert zeigte sich Nuklearexperte Pawel Podwig von der UN-Forschungsorganisation zu Sicherheit und Rüstungskontrolle (Unidir). Zwar seien die angegriffenen Bomber tatsächlich Teil der sogenannten nuklearen Triade Russlands. Doch sie seien ihr schwächster Teil, deutlich weniger bedeutend für die nukleare Abschreckung als die beiden anderen Komponenten, die boden- und seegestützten, atomar bestückbaren Interkontinentalraketen. Tatsächlich ist weniger als ein Fünftel der russischen Atomsprengköpfe für die Bomber bestimmt.
Eine Reaktion Russlands auf den Angriff gab es trotzdem. Nach tagelangem Schweigen ließ Putin ausgerechnet den US-Präsidenten Donald Trump die Weltöffentlichkeit darüber informieren, dass Russland darauf reagieren müsse. Das teilte Trump nach einem Telefongespräch mit Putin am Mittwoch mit. In der Nacht zum Donnerstag kam dann die angekündigte Reaktion: Mehr als 400 Drohnen sowie fast 50 Marschflugkörper und Raketen setzte Russland bei diesem zweitgrößten Luftangriff auf die Ukraine seit Kriegsbeginn ein. Hätte das ukrainische Militär am Vortag nicht mindestens ein Abschusssystem für ballistische Raketen zerstört, hätten es noch mehr sein können.
Doch so schmerzhaft die kombinierten Angriffe mit Hunderten Flugkörpern für die Ukraine auch sind: Sie sind seit fast zwei Jahren Standardprogramm des russischen Luftkriegs. Zwar setzt Russland graduell mehr Drohnen ein und statt Marschflugkörpern deutlich schwerer abwehrbare ballistische Raketen. Doch das sind Langzeit-Entwicklungen, die nichts mit einer unmittelbaren Vergeltung für die Operation "Spinnennetz" zu tun haben.
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Sosehr der Kreml sich auch bemüht, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren: Die Schwelle für einen Einsatz von Atomwaffen ist mit derartigen Attacken der Ukraine offenkundig nicht erreicht. Ebenso wenig wie bei der Versenkung des Kreuzers Moskwa im April 2022, dem Angriff auf die Krimbrücke im Oktober desselben Jahres, der Verwüstung des Hauptquartiers von Russlands Schwarzmeerflotte mit westlichen Raketen im September 2023, dem Einmarsch in Kursk im August 2024 und dem Einsatz westlicher Marschflugkörper gegen Ziele auf russischem Boden im Spätherbst 2024. Alles Angriffe, die Russland mit dem Einsatz von Atomwaffen zu beantworten gedroht hatte. Sieht man von Letzteren ab, schöpft Russland aber längst die volle Fähigkeit seines Militärs aus. Und damit auch seine Eskalationsdominanz.
Das äußert sich nicht nur darin, dass die Ukraine sich derartige Angriffe überhaupt traut. Sondern auch in den westlichen Reaktionen auf die Angriffe des SBU. Er "bewundere" sie, sagte am Mittwoch in Brüssel Verteidigungsminister Boris Pistorius. Sein britischer Amtskollege John Healey bekundete, "seinen Hut" davor zu ziehen. Die wichtigsten Partner der Ukraine reagieren somit nicht etwa mit Aufrufen zur Deeskalation gegenüber dem Aggressor, sondern mit Unterstützung für die Attacke.
Das gilt, etwas eingeschränkt, sogar für die USA, die sich unter der Führung von Präsident Donald Trump nicht mehr als Unterstützer der Ukraine, sondern als Vermittler zwischen ihr und Russland zu betätigen versuchen. Trumps Ukraine-Sondergesandter Keith Kellogg sagte zwar zunächst, das Eskalationsrisiko sei durch die Angriffe gestiegen. Doch wenig später – nachdem Großbritannien und Deutschland die Ukraine öffentlich zu der Operation beglückwünschten – schrieb der Ex-General auf X: Seine militärische Erfahrung und die Geschichte hätten gezeigt, dass "mutige Führung und mutiges Handeln", wie sie vom SBU gezeigt worden seien, "die Natur des Schlachtfeldes verändern können". Die Attacke könne "eine treibende Kraft für den Frieden sein".
Das ist wohl kaum die Reaktion, die sich der Kreml aus dem ihm freundlich gesinnten Trump-Lager erhofft. Aber es ist die, die er bekommt. Sogar Trump persönlich soll sich Berichten zufolge intern "beeindruckt" von der Attacke gezeigt haben, auch wenn er die Ansicht Kelloggs, sie könne Russland zu Friedensgesprächen bewegen, nicht teile.
Die Washington Post berichtete am Freitagmorgen unter Verweis auf Quellen in ukrainischen Geheimdiensten, "weitere komplexe Operationen" seien angeblich in Planung.
1199 Tage seit Beginn der russischen Invasion
Die Zitate: Ein Ex-Präsident und ein Senator
Nach dem ukrainischen Angriff auf die russischen Langstreckenbomber hat Wladimir Putin tagelang geschwiegen, die Staatspropaganda spielte die Folgen des Angriffs herunter. Anstelle des Präsidenten meldete sich am Mittwoch sein Vorgänger und Stellvertreter im russischen Sicherheitsrat zu Wort: Dmitri Medwedew, der sich im Krieg als aggressiver Hardliner positioniert.
An "alle, die sich Sorgen machen und auf Vergeltung warten" schrieb Medwedew auf Telegram, dass Vergeltung "unabwendbar" sei. Mit Verweis auf den russischen Vormarsch in den Bodenkämpfen kündigte Medwedew an: "Alles, was explodieren muss, wird unbedingt gesprengt, und jene, die ausgerottet werden müssen, werden verschwinden." Zu den parallel laufenden Gesprächen über eine Waffenruhe äußerte sich Medwedew ebenfalls:
Die Ukraine hatte Russland mehrfach vorgeworfen, die Gespräche in Istanbul nur zum Schein zu führen. Obwohl Medwedew als Propagandist ohne reale Macht gilt, dürfte man sich in Kyjiw von solchen Äußerungen in dieser Anschuldigung bestätigt fühlen.
Und nicht nur in Kyjiw: Auch in den USA stieß Medwedew auf eine Reaktion. Sie kam vom republikanischen Senator Lindsey Graham, der seit Wochen für härtere Sanktionen gegen Russlands Ölexporte wirbt. Auf X bedankte sich Graham bei Medwedew "für einen seltenen Moment der Ehrlichkeit seitens der russischen Propagandamaschine", und schrieb weiter:
Grahams Sanktionspaket, das einen Zollaufschlag von 500 Prozent für den Handel mit Importeuren russischen Öls vorsieht, hat nach Angaben des Republikaners die Unterstützung von mehr als zwei Dritteln der Senatoren. Doch ob es überhaupt zur Abstimmung gestellt wird, hängt maßgeblich von US-Präsident Donald Trump ab. Und dieser sagte zuletzt, er wolle die Verhandlungen nicht mit solchen Schritten "gefährden".
Die wichtigste Meldung: Einer Waffenruhe nicht näher
In Istanbul haben sich am Montag erneut eine ukrainische und eine russische Delegation für Gespräche über eine Waffenruhe getroffen. Beim zweiten direkten russisch-ukrainischen Treffen in dem von den USA initiierten Gesprächsprozess gab es erneut nur wenige Resultate: Ein weiterer Gefangenenaustausch wurde vereinbart, dazu die Übergabe von jeweils 6.000 getöteten Soldaten. Doch dem formellen Ziel der Gespräche, einer Waffenruhe, kamen die Kriegsparteien dabei nicht näher. Die Vorschläge, die von beiden Delegationen der Gegenseite übergeben worden sind, wichen kaum von den jeweiligen Forderungen bei ihrem ersten Treffen Mitte Mai ab. So fordert die Ukraine:
- eine bedingungslose Waffenruhe
- Überwachung der Waffenruhe unter Einbezug internationaler Organisationen
- den Austausch aller Kriegsgefangenen
- die Rückführung aller nach Russland entführten Kinder und Jugendlicher
- Reparationszahlungen
- Keinerlei Beschränkungen für die Bündnisfreiheit der Ukraine, die künftige Truppenstärke ihrer Armee und Mitgliedschaften in Organisationen wie EU und Nato
Russland unterteilte seine Forderungsliste wiederum in mehrere Teile: Forderungen für ein Kriegsende sowie für eine vorläufige Waffenruhe. Ersteres entsprach in allen Punkten der bisherigen russischen Position:
- Eine internationale Anerkennung der russischen Eroberungen und Annexionen
- Verzicht der Ukraine auf den Eintritt in militärische Bündnisse
- Eine Begrenzung der künftigen Truppenstärke sowie des Arsenals der Ukraine
- Entfall aller Sanktionen und Verzicht auf Reparationsforderungen
- Ein offizieller Status für die russische Sprache in der Ukraine
Eine – faktisch minimale – Änderung gab es hingegen bei Russlands Forderungen für eine Waffenruhe. Dafür schlug die russische Delegation zwei Varianten vor. Die erste besteht aus nur einer Forderung: dem Rückzug der Ukraine aus den von Russland beanspruchten Regionen sowie zusätzlich einer nicht näher definierten Zone entlang der Staatsgrenze. Die zweite Variante sieht eine Waffenruhe ohne ukrainischen Rückzug vor – dafür aber hohe Auflagen:
- Stopp von Waffenlieferungen an das Land sowie dessen Versorgung mit Geheimdienstdaten
- Verbot von ukrainischen Truppenbewegungen, die nicht dem Rückzug dienten
- Ende der Mobilmachung sowie des Kriegsrechts
- Parlaments- und Präsidentschaftswahlen spätestens 100 Tage nach Ende des Kriegsrechts
- Verzicht der Ukraine auf Sabotageakte auf russischem Gebiet
- Überwachung der Waffenruhe ohne Einbezug von Drittstaaten
Russland würde demnach aber weiterhin Soldaten rekrutieren können und müsste seine kriegsbedingten Anpassungen in der Gesetzgebung nicht aufheben. Beide Vorschläge, ob mit einem ukrainischen Abzug aus von Russland beanspruchten Gebieten oder nicht, waren somit von Anfang an aussichtslos.
Das Politikteil - Der Politikpodcast von ZEIT und ZEIT ONLINE: Wolodymyr Selenskyj – wie viel Handlungsspielraum bleibt ihm noch?
Waffenlieferungen und Militärhilfen: Boote, Drohnen, Ausbildung und Geld
- Die Niederlandeverstärken nach eigenen Angaben die ukrainische Seeverteidigung mit Patrouillenbooten, Seedrohnen und weiterer Ausrüstung im Wert von 400 Millionen Euro. Demnach umfasst das Hilfspaket mehr als 100 militärische Wasserfahrzeuge.
- Großbritannien finanziert mit umgerechnet 415 Millionen Euro die Beschaffung von 100.000 Drohnen für die ukrainischen Streitkräfte. Der britische Verteidigungsminister John Healeay kündigte darüber hinaus an, die Finanzierung des britischen Ausbildungsprogramms für ukrainische Soldaten um 20 Prozent auf fast 300 Millionen Euro zu erhöhen.
- Dem ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow zufolge haben die Unterstützerstaaten seines Landes beim 28. sogenannten Ramstein-Treffen in Brüssel am Donnerstag beschlossen, die Rüstungsproduktion in der Ukraine in diesem Jahr mit insgesamt 1,3 Milliarden Euro zu fördern. Die erste Tranche in Höhe von mehr als 400 Millionen Euro werde von Schweden, Kanada, Norwegen, Dänemark und Island finanziert. Das Geld soll Umjerow zufolge in die Produktion von Artilleriesystemen, Drohnen, Raketen und Panzerabwehrwaffen fließen.
Den Rückblick auf die vergangene Woche finden Sie hier.
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