La Liga: Wie Hansi Flicks FC Barcelona sich an Real Madrid vorbeikatapultierte

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Hansi Flick klopft Kylian Mbappé auf die Schulter

Hansi Flick klopft Kylian Mbappé auf die Schulter

Foto: Alberto Estevez / EPA

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Um Viertel nach sechs erzitterte das Olympiastadion von Barcelona in seinen Grundfesten. Der lokale Futbol Club hatte 0:2 zurückgelegen, aufgeholt, dominiert, ein Schützenfest in Aussicht gehabt, am Ende höllisch gelitten – und jetzt, in der letzten Minute der Nachspielzeit doch noch einmal getroffen. Den Schützen Fermín López hielt nichts mehr. Er sprang über die Werbebande, tanzte über die Laufbahn, die Teamkollegen hinterher, Fans kamen aus der Kurve gestürzt, Fotografen mittendrin, um den Jubel festzuhalten, die Feier dieses Tors und einer ganzen Saison.

Ein paar Minuten später: Der VAR. Irgendeine Handberührung in der Entstehung. Das Tor zählte nicht. Fermín sackte in sich zusammen. Aber es war egal.

Einen letzten Versuch von Real Madrid später war das Spiel zu Ende. 4:3 (0:2) gewann Barça, damit fehlen den Katalanen aus den letzten drei Spielen nur noch zwei Punkte zur Meisterschaft. Daneben haben sie etwas fertig gebracht, was es in 123 Jahren Rivalität der beiden Megaklubs noch nie gab: den Clásico-Poker.

Vier Clásico in einer Saison, vier Triumphe. Tordifferenz 16:7. 4:0 im Ligahinspiel auswärts, 5:2 im Supercupfinale, 3:2 im Pokalfinale, jetzt 4:3. Wobei ein 7:5 auch niemanden gewundert hätte. Allein in der Nachspielzeit wurde vor Barça auch Madrid ein Treffer annulliert (Abseits). Schon vorher hatte jedes Team ein weiteres Tor erzielt, das keine Anerkennung fand. Es war, wenige Tage nach dem Jahrhunderthalbfinale von Barça gegen Inter Mailand in der Champions League, schon wieder so ein Spiel.

Nach dem Abpfiff schlug Trainer Hansi Flick mit Lamine Yamal ein. Aber nicht irgendwie. Es war eine rabiate Umarmung, voller Stolz. Lamine, der 17-Jährige, der Fußball anders spielen kann als die anderen, schwang die Faust, ruderte mit den Armen, freute sich wie, nun ja, ein 17-Jähriger. Der Teamstaff, sehr viele Leute sind das heutzutage, bildete ein Spalier für die Spieler auf dem Weg in die Kabine.

Der Fußball und seine Launen: Vor fünf Tagen in Mailand waren sie, Lamine vorneweg, noch am Boden zerstört.

Der Fußball und seine Launen: Vor allem, wenn eine Elf von Hansi Flick spielt.

Lamine Yamal beim Jubellauf durchs Olympiastadion

Lamine Yamal beim Jubellauf durchs Olympiastadion

Foto: Joan Monfort / AP

Die erste Halbzeit am Sonntag auf dem Montjuïc übertraf noch mal allen Irrsinn, den man in diesem Jahr von Barça gesehen hatte. Und darunter waren die Aufholjagden wie gegen Inter (jeweils auf Zwischenstand 2:2 nach 0:2), ein 5:4 gegen Benfica Lissabon nach 2:4, oder auch das 4:1 zur Halbzeit gegen Real nach 0:1 im Supercup.

Diesmal stand es nach einer Viertelstunde 0:2. Nach einer halben Stunde durch ein Kopfballtor von Eric García noch 1:2. Und nach einer Dreiviertelstunde 4:2. Ein gewohnt brillanter Schlenzer von Lamine, zwei kühle Abschlüsse von Raphinha.

Drei Mbappé-Tore sind nicht genug

Barça spielte vorn mal wieder wie im Rausch, doch hinten kassierte es drei Treffer von Kylian Mbappé, drei ziemlich einfache Treffer nach Kontern. Das über weite Strecken vollkommen unterlegene Madrid hätte in der Schlussphase sogar noch einen vierten Treffer erzielen können, wie auch Flick später entgegengehalten wurde.

»Hätte«, antwortete der Deutsche lächelnd. »Haben sie aber nicht.«

Barças Fans sind begeistert. Ihre junge, euphorische Mannschaft, die ganzen Aufholjagden, das pure Leben. Nie, nicht mal mit Lionel Messi und Coach Pep Guardiola, hätten sie so viel Spaß am Fußball gehabt, sagen viele.

Aber der Trainer? »Es ist nicht immer Spaß, manchmal leide ich auch«, gestand Flick. Manchmal, nicht oft.

Fußballtrainer neigen normalerweise zum Sicherheitsdenken. Auch ein vermeintlicher Offensivapologet wie Guardiola wird von der Sorge gelenkt, was passieren kann, wenn seine Mannschaft die Kugel nicht hat. Daher seine Obsession mit dem Ballbesitz.

Barça-Trainer Hansi Flick mit seinem Madrider Gegenpart Carlo Ancelotti

Barça-Trainer Hansi Flick mit seinem Madrider Gegenpart Carlo Ancelotti

Foto: Albert Gea / REUTERS

Kontrolle ist gut, der FC Barcelona ist besser

Die Angst vor Kontrollverlust ist menschlich. Kennt sie dieser Hansi Flick nicht? Welches Gemüt muss besitzen, wer im Viertagesrhythmus solche Schlachten coacht? Und: Wäre es nicht ab und zu doch mal angeraten, die berühmte hohe Abwehrlinie seiner Elf etwas zurückzusetzen? Wenigstens bei 4:2? Gegen eine Mannschaft, die mit Mbappé und Vinícius über die wohl besten Konterstürmer der Welt verfolgt?

Auch das wurde Flick gefragt, und seine Antwort war so ehrlich wie nie zuvor in dieser Saison. »Mit Matches alle vier Tage wie in den letzten Monaten ist es nicht leicht zu arbeiten. Ich weiß, dass wir noch viel verbessern müssen, besonders in der Abwehr. Wir müssen stabiler werden.« Oder, poetischer: »Unsere Reise ist nicht vorbei.«

 Hat Real Madrid seit Kylian Mbappés Verpflichtung einen Star zu viel im Team?

Drei Tore, null Punkte: Hat Real Madrid seit Kylian Mbappés Verpflichtung einen Star zu viel im Team?

Foto: Lluis Gene / AFP

Auf deren erster Etappe hat Flicks Barça in ungeahntem Maße an Real Madrid vorbeikatapultiert. Flick steht vor dem nationalen Triple. Er hat vier Clásicos gewonnen. Und in jedem Spiel war Barça die bessere Mannschaft, mindestens so klar wie die Ergebnisse es aussagten. Am Sonntag noch mehr.

Selten in seiner großen Geschichte kann sich das große Real so gedemütigt gefühlt haben wie zum Ende der ersten Halbzeit. Minutenlang rückte Barça die Kugel nicht raus, bei jedem Ballkontakt ein olé von den Rängen. »Visca el Barça i visca Catalunya«, es lebe Barça und es lebe Katalonien, sangen die Fans da schon.

Madrid schaffte es in der zweiten Halbzeit, wenigstens sein Gesicht zu wahren. »Das Spiel war umkämpft bis zur letzten Minute«, sagte Trainer Carlo Ancelotti nach seinem wohl letzten Clásico, bevor allen Wettbüros zufolge Xabi Alonso übernimmt. »Man darf nicht vergessen, dass uns fünf Verteidiger fehlten«, wies Ancelotti auf die Plage von Blessuren hin; kleiner Seitenhieb auf unterlassene Wintertransfers wohl inklusive.

Und doch ist die Wucht des königlichen Absturzes immens. Es war immerhin die Saison, vor der ein Champions-League-Titelverteidiger um den galaktischen Mbappé verstärkt wurde. Im Olympiastadion rebellierte Mbappé lange Zeit als einziger gegen das Debakel. Aber auf ironische Weise entlarvte auch das wieder, dass sie sich irgendwie gegenseitig abzustoßen scheinen, er und die vorherige Erfolgself.

Dem bisherigen Real-Star Vinícius Júnior, in den vergangenen Jahren die Speerspitze einer stets kampfeslustigen, geschlossenen und mental imposanten Mannschaft, liegt dieser Tage ein Vertragsangebot bis 2030 vor. Die Konditionen sollen so gut sein wie bei Mbappé. Aber auf dem Platz aber war Vinícius zuletzt ein Schatten seiner selbst.

Aus Madrid sind Spekulationen über Eifersüchteleien zwischen den beiden Linksaußen stets dementiert worden. Und tatsächlich lässt sich ihr guter Wille zum Zusammenspiel nicht leugnen. Vor Reals 3:4 beispielsweise legte Vinícius gänzlich uneigennützig auf Mbappé ab, als er auch selbst hätte verwandeln können.

Aber irgendetwas stimmt wohl nicht, wenn Mbappé mit 38 Toren in 52 Spielen keineswegs enttäuscht und in der Liga jetzt mit 27 Toren sogar den verletzten Robert Lewandowski auf Platz eins abgelöst hat – sein Team aber in allen Wettbewerben abstürzt.

Ancelotti redet nach jedem der Gegentreffer auf Vinícius ein, der nahe der Trainerbank auf den Wiederanpfiff wartete. Irgendwann gab er es auf. Kurz vor Schluss wechselte er ihn sogar aus, wegen einer Verletzung, wie er später sagte.

Oder Jude Bellingham: Vorige Saison war er mit zwei Toren beim 2:1 in Barcelona der große Held, der Madrid zeitig auf das Meisterschaftsgleis setzte. Nun trabte der Engländer an selber Stelle dem Geschehen immer einen Schritt hinterher.

Vier Clásico, vier Niederlagen. Das desaströse Ende der Ära Ancelotti.

Der Beginn einer Ära Flick? Der neue König von Barcelona ist für Kampfansagen traditionell nicht zu haben. Er betonte nur: »Wir wollen besser werden. Und wir haben viel Potenzial dafür.« Wieder lächelte er.

Schon am Donnerstag kann Flick auch der neue König von Spaniens Klubfußball sein, dann könnte Barça im Derby bei Espanyol die letzten fehlenden Punkte holen.

Fühlt er sich schon als Meister? »Nein«, sagte Flick: »Das ist Fußball.«

Ja, nach dieser Woche wissen sie besser denn je: Das ist Fußball.

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