Nach der Wahl ist vor der Wahl, jedenfalls für Laura Rosen. In genau 139 Tagen will die 30-jährige Finanzbeamtin für die CDU das Rathaus in Deutschlands ärmster Stadt erobern, in Gelsenkirchen. Dafür benötigt sie Rückenwind aus Berlin – und Rückhalt vom designierten Kanzler. „Herr Merz hat einige Ankündigungen gemacht“, sagt die Kandidatin fürs Amt der Oberbürgermeisterin, „wenn das jetzt nicht kommt, wird es schwierig.“ Merz’ Wohl oder Wehe als Regierungschef, das weiß Rosen, wird auch über ihre eigene Zukunft entscheiden.
Die NRW-Kommunalwahl am 14. September wird für die schwarz-rote Koalition im Bund zur ersten Testwahl nach der erwarteten Regierungsbildung Anfang Mai. Weshalb die CDU an Rhein und Ruhr mehr als anderswo auf schnelle, sichtbare Reformen hofft. Oder, wie es anonym ein Düsseldorfer Parteistratege formuliert, „auf etwas Aufbruch, auf wenigstens ein wenig Wende“. Der größte CDU-Landesverband, der bei der Bundestagswahl mehr Zweitstimmen für Merz und die Union gewann als die CSU in Bayern, schielt nervös auf bundesweite Umfragen, in denen die AfD zulegt, während CDU und SPD stagnieren. Zur Erinnerung: In Gelsenkirchen hatten die Blauen schon am 23. Februar knapp vor SPD und CDU gelegen. Ein Menetekel?
Immerhin, die Stimmung an der schwarzen Basis steige wieder, versichert Laura Rosen. Ende März, nach der Ankündigung milliardenschwerster neuer Schulden entgegen vorheriger Wahlversprechen, seien „viele Parteifreunde enttäuscht“ gewesen. Für Schlagzeilen sorgte damals ein Brandbrief der Jungen Union aus Köln, der die damaligen Sondierungen mit der SPD als „politisches Desaster“ geißelte und Merz persönlich „opportunistische Deals“ mit den Sozis vorwarf. Solcher Zorn, solcher Unmut, so versichert im Gespräch mit der SZ ein knappes Dutzend Gesprächspartner, sei „abgeklungen“ und „verraucht“. Oder sogar „verflogen“. So sieht das auch Laura Rosen: „Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen ist jetzt besser als die Unkenrufe noch vor Wochen.“
„Wir als Junge Union müssen der Regierung Druck machen“
Auch Kevin Gniosdorz, der NRW-Vorsitzende der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen, klingt mittlerweile gelassener. „Ich sehe keinen Grund, jetzt auf die Barrikaden zu gehen“, sagt der 33-Jährige. „Den Stab zu brechen über eine Regierung, die es noch nicht einmal gibt, ist einfach voreilig.“ Ja, vieles im Koalitionsvertrag sei „eher vage – aber darin liegen auch Chancen“. Bei Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zum Beispiel hätten die Koalitionsverhandler zwar „nicht die Kraft gehabt zu großen Reformen, die meiner Generation extrem wichtig sind“. Aber das könne sich ja noch ändern: „Wir als Junge Union müssen der Regierung Druck machen, dass diese drängenden Reformen in den nächsten zwei, drei Jahren endlich angepackt werden.“
Nur aufgeschoben, um nachzuholen? Gniosdorz vertraut da auf Carsten Linnemann, den CDU-Generalsekretär. Der stammt, wie er selbst, aus dem konservativ-katholischen Kreis Paderborn. Dass sein Idol Linnemann nun nicht Wirtschaftsminister werden wolle, bedauert der Jungunionist. Aber der wirtschaftsliberale Linnemann werde Einfluss haben auf den Kurs der Regierung, auch als Mitglied im künftigen Koalitionsausschuss: „Wenn unser Parteichef der Kanzler ist, dann wird der Generalsekretär eine noch wichtigere Rolle spielen“, glaubt Gniosdorz. Also für Linie sorgen, für programmatisch schwarze Kante.
Laura Rosen denkt da kurzfristiger. Und handfest. Im Bundestags-Wahlkampf habe sie kein Bürger nach Haushaltsregeln oder Sondervermögen gefragt. Sondern nach Migranten aus Südosteuropa in Schrottimmobilien, nach mehr Sicherheit auf der Straße, nach Betrug bei Sozialleistungen: „In Gelsenkirchen entdecken die Menschen am Morgen drei Müllkippen am Straßenrand, dann fahren sie durch zwei Schlaglöcher. Und dann sehen sie an der nächsten Ecke, wie der vierte Müllhaufen aufgeschüttet wird.“
Weshalb Rosen hofft, dass die 500 Milliarden Euro für neue Infrastruktur schnell ankommen in ihrer Stadt – als Investitionen in neue Kitas oder Schulen etwa. Oder für neuen Asphalt. Dass die Berliner Koalition nun zugesagt habe, die elenden Altschulden vieler Ruhrgebietsstädte endlich mit abzutragen, sei nicht nur ein Verdienst der SPD: „Auch unsere CDU-geführte Landesregierung hat dafür viel getan.“ Eigentlich sei die Sache recht simpel: Die CDU müsse, gerade nach dem Frust über die Ampel, „in den nächsten fünf Monaten zeigen, dass wir solide Politik machen“. Das sei das beste Mittel gegen den Frust. Und gegen die AfD.
Erstmals abgerechnet wird dann am 14. September. Auch im Rathaus von Gelsenkirchen – und auch über den Kanzler in Berlin.