Jens Harders Evolutionscomic: Hundert Milliarden Jahre auf zweihundert Seiten

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Wer sein blaues Wunder erleben will, liegt mit diesem Comic namens „Gamma ...visions“ genau richtig. Auch buchstäblich: Jens Harder hat sich für „Gamma ...visions“, den Abschlussband seines beispiellosen Evolutionscomics, für eine monochrome Gestaltung entschieden: blau (und wer es ganz genau wissen will: für den Farbton Pantone 312). Blau, wie unser Planet, dem in „Gamma“ das Sterbeglöckchen geläutet wird (aber das gilt fürs ganze Universum). Blau wie die Blume der Romantik, die uns vom Leben träumen lässt. Blau wie die Kälte, die uns eine Zukunft abseits der Erde verheißt. Und eben blau wie das Wunder, das wir mit der Naturgeschichte erleben können. Und auch mit der Kulturgeschichte.

Beide brachte Harder erstmals im Jahr 2009 in „Alpha“ zusammen, einem Band, der Epoche machte - wenn auch in Deutschland erst verspätet, denn der Berliner Zeichner fand zwar in Frankreich mit Thierry Groensteen und dessen Großverlags-Imprint L’An 2 begeisterte Förderer, aber der Hamburger Carlsen Verlag entschloss sich erst zur Publikation des deutschen Originals, als „Alpha“ einen der wichtigsten französischen Comicpreise gewonnen hatte. So ist es witzig, dass nun in der französischen Ausgabe von „Gamma“ auf die “deutsche Originalausgabe“ verwiesen wird, obwohl beide gleichzeitig erschienen sind und L’An 2 die älteren Rechte auf den Titel eines „Originals“ hat. Aber der Berliner Zeichner Harder schreibt seinen Comic natürlich auf Deutsch. Und dass sowohl L’An 2 als auch Carlsen seinem schließlich auf rund 1300 Seiten angewachsenen Mammutprojekt über sechzehn Jahre hinweg die Treue hielten, ist eine beiderseitige Heldentat. Andererseits: Wann hatte man es als Verlag so leicht, Comic-Geschichte zu schreiben?

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausDie Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Comic-Geschichte in jeder Hinsicht. Denn was Harder in „Alpha“, den beiden „Beta“-Bänden und jetzt „Gamma“ erzählt, ist nicht weniger als eine Universal- oder besser Universumsgeschichte, vom Big Bang bis zum Big Crunch, über mehr als hundert Milliarden Jahre hinweg, und dafür sind 1300 Seiten ja recht wenig. Zumal der größte Brocken, die sich allein auf fast 750 Seiten summierenden beiden „Beta“-Bücher, der Menschheitsgeschichte gewidmet ist, und die währt bekanntlich erst ein paar läppische Millionen Jahre. Allerdings hat sie einen überaus reichen Bildervorrat hervorgebracht. Und den nicht nur mit Darstellungen von Dingen, die Menschen selbst beobachtet hatten, sondern auch solchen über das, was ihnen voranging und was auf sie folgen wird. Unsere Spezies hat eben Phantasie.

Die optimistische Variante vom Weltende

Und Vernunft, auch wenn man das bisweilen nicht glauben mag. Vulgo Wissenschaft, Harder hat sich für alle seine vier Comicbücher bei den Errungenschaften von Natur- und Geisteswissenschaften ebenso stark bedient wie beim großen Bilderschatz, den die Menschheit hervorgebracht hat. Natürlich hat er ihn auch selbst bereichert, indem er eigenhändig zeichnete - copy and paste ist nicht Harders Prinzip. Aber die Anregungen zu seinen Panels verdankt er Vor-Bildern unterschiedlichster Provenienz: Comics selbstverständlich, aber auch Lehrbuchschemata, Simulationen, Fotos, Gemälden, Filmen. Diese Evolutionsgeschichte berichtet nicht nur davon, wie sich das Universum vor sechzehn Milliarden Jahren entwickelt hat und später die Erde hervorbrachte, sowie darüber, was sich dann darauf tat und tun wird, ehe das, was in Zukunft Leben genannt werden kann, nach extraterrestrischer Heimat suchen muss, um irgendwie die Zeit zu überstehen, bis sich das All in etwa hundert Milliarden Jahren zu einer neuen Singularität zusammenziehen wird (Harder hat sich da für die optimistische Variante von drei konkurrierenden astrophysikalischen Theorien entschieden). Nein, sie berichtet auch vom menschlichen Bemühen, die Welt zu erklären. Es begleitet uns, seit wir denken können.

Wir sind in der Phase der von Jens Harder für die Zeit von 2280 bis 2335 prognostizierten „Ultimativen Kybernetischen Ablösung“ angekommen. Das Panel mit dem Weltenzerstörer Galactus entnimmt er aus einem von Stan Lee verfassten und von Moebius gezeichneten „Silver Surfer“-Comic aus dem Jahr 1988.Wir sind in der Phase der von Jens Harder für die Zeit von 2280 bis 2335 prognostizierten „Ultimativen Kybernetischen Ablösung“ angekommen. Das Panel mit dem Weltenzerstörer Galactus entnimmt er aus einem von Stan Lee verfassten und von Moebius gezeichneten „Silver Surfer“-Comic aus dem Jahr 1988.Carlsen Verlag

Dieses Bemühen artikulierte sich in zahllosen Bildern, und da Harder als Comic-Autor ein Bild-Erzähler ist, stellte er den Ehrgeiz, selbst grafisch originell zu sein, hintan und eine Materialsammlung zusammen, die er dann zu seiner/unseren großen Geschichte arrangierte. Die normalerweise in der unmittelbaren Gegenwart ihren logischen Schlusspunkt gefunden hätte, denn jeder Blick in die Zukunft ist Spekulation, nicht mehr Evolution. Aber als „Beta“ zu Ende kam, kündigte Harder „Gamma“ an. Und das griechische Alphabet hätte ja noch etliche weitere Buchstaben geboten ....

Vom Bilder-Finden und -Erfinden

Also hat es mich fast überrascht, dass in „Gamma“ jetzt wirklich bis an den Schluss des für uns Vorstellbaren erzählt wird - oder gewissermaßen wieder an den Anfangspunkt von „Alpha“. Dafür braucht Harder diesmal nur 216 Seiten inklusive Anhang, in dem ein ausführliches Nachwort das ganze Projekt resümiert, sich der Autor (wie jedes Mal) an die Wissenschafts- und die Gottgläubigen wendet (aber diesmal auch an die Zensoren und die Puristen), seine Bild- und Informationsquellen ausgewiesen werden und noch einmal auf nur zwei, aber dicht bedruckten Textseiten eine „Komplettübersicht“ der Entwicklung vom Jahr 2022 bis zum Jahr hundert Milliarden geboten wird, falls jemand auf den 200 Seiten Comic zuvor nicht alles verstanden haben sollte.

Das Cover von „Gamma ...visions“Das Cover von „Gamma ...visions“Carlsen Verlag

Das ist eine kluge Idee, denn Harder macht es uns diesmal nicht ganz leicht. Nicht nur, dass wir Dinge und vor allem Ereignisse sehen, die es noch gar nicht gibt (wofür er erst einmal Bilder finden und erfinden musste), wir lesen auch eine Sprache, die nicht dem entspricht, was wir Hochdeutsch nennen würden. Stattdessen ist es ein typographisch-technoid wirkendes Geschichtsverlaufsprotokoll, das bisweilen in einzelnen Zeilen aus der blauen Bilderflut auftaucht, zudem in ungewöhnlicher Orthographie - wie beschädigte Botschaften aus der Zukunft, und das ist just der Effekt, den Harder damit anstrebt: Auch die Sprache wird sich verändern, und unser Fremdheitsgefühl beim Lesen soll uns klarmachen, dass wir uns bestenfalls träumen lassen können, was die Welt künftig im Innersten zusammenhalten wird. Es ist - das sei vorweggenommen - ohnehin nicht viel.

Dank den Modellen der Science Fiction

Denn uns als Menschheit steht nach Harders Prognose ein Phänomen bevor (und zwar bald, in 175 Jahren geht es bereits los, was Harder selbst allerdings als noch sehr zuversichtlich-zurückhaltend bezeichnet), das er die „Ultimative Kybernetische Ablösung“ nennt, sprich: die Ersetzung der Menschen durch Künstliche Intelligenz, die dann Daseinsformen hervorbringen wird, die weiter den Planeten ausbeuten (und zwar bis zum letzten Tropfen), aber nichts mehr mit unserem Verständnis von Leben zu tun haben. So etwas in Bilder zu setzen, ist die Riesenherausforderung von „Gamma“, und das Resultat bedient sich vor allem jenem grafischen Erzählen, wie es Science Fiction und Fantasy entwickelt haben. So treten noch in Jahrmilliarden Strukturen auf, die organisch oder technisch wirken. Das hat fast schon etwas Tröstliches angesichts dessen, dass da die Erde längst ausgelaugt aufgegeben sein wird.

 Gigakluster an Interferenz.Punktten“. Seite 193 aus „Gamma ...visions“Ein Blick weit in die Zukunft, etwa siebzig Milliarden Jahre nach uns: „Galaxienbögen und -wände kontraktkollaboreieren“, heißt es bei Harder: „resultat: Gigakluster an Interferenz.Punktten“. Seite 193 aus „Gamma ...visions“Carlsen Verlag

Aber alles, was wir sehen (und dann doch auch immer wieder lesen), beruht eben auf nach bestem Wissen und Gewissen von Harder kumulierten Voraussagen aus allen Forschungsgebieten. So ist seine Evolutionsdokumentation ein großer Sachcomic, der erste in Deutschland von solchem Anspruch und Ausmaß, und er hat dadurch Maßstäbe gesetzt, die nicht so rasch einzuholen sein werden. Eines der interessantesten Projekte in diesem Geist ist immerhin gerade erst erschienen: Ulli Lusts „Die Frau als Mensch“, eine ebenfalls immens umfangreiche (drei Bände werden es mindestens) Kulturgeschichte der menschlichen Geschlechterbeziehungen. Deren erster Teil hat im Frühjahr den Deutschen Sachbuchpreis gewonnen und sich seitdem fünfzigtausend Mal verkauft - eine im deutschen Comicgeschäft zuvor unvorstellbare Zahl, wenn wir einmal von „Asterix“ absehen. Und wir reden bei Ulli Lusts Buch nicht von leichter Kost. Es steht dem Werk von Lusts früherem Atelierkollegen Harder an Komplexität und Faktenfülle nicht nach. Allerdings kann es auch besser fokussieren: Bei Ulli Lust geht es ja gerade einmal um ein paar Zehntausend Jahre.

 Jens Harder lässt in den Sechzigerjahren des 21. Jahrhunderts eine Kontaktaufnahme außerirdischer Intelligenzen mit der Erde an Koordinatenfehlern scheitern. Irren ist eben doch nicht nur menschlich.Da sind wir noch nah dran: Jens Harder lässt in den Sechzigerjahren des 21. Jahrhunderts eine Kontaktaufnahme außerirdischer Intelligenzen mit der Erde an Koordinatenfehlern scheitern. Irren ist eben doch nicht nur menschlich.Carlsen Verlag

Die menschlichen Schwächen werden uns überleben

Was „Gamma“ sich im Gegensatz zu seinen drei Vorläuferbänden und auch zu „Die Frau als Mensch“ leisten kann, ist eine gewisse Ironie, denn echte Geschichtsschreibung kann sich keine Witze erlauben, Zukunftsschreibung dagegen schon. So gibt es in „Gamma“ zwar keine science-fiction-typische Begegnung mit Außerirdischen, aber Harder spielt mit diesem literarisch vertrauten Motiv, indem er schon für die Sechziger unseres Jahrhunderts eine mögliche Kontaktaufnahme erwähnt, die aber an Koordinatenfehlern scheitern wird. Solche als spezifisch menschlich angesehene Wirrnis spielt immer wieder eine große Rolle - die Evolution, das haben die Vorgängerbände klargemacht, ist bei aller prinzipiellen Logik ihres Ablaufs auch zufallsabhängig gewesen, und sie wird es weiter sein. Harders Zyklus hält dafür einige höchst lehrreiche Beispiele parat.

Was bleibt nun nach sechzehn Jahren Wartezeit aufs große Ganze (die Harder selbst sogar fast ein Vierteljahrhundert Arbeit gekostet hat, „ein halbes Comiczeichner-Leben“, wie er zu Recht sagt)? Harder sitzt bereits an einem neuen Band: selbes Format, selbes wissenschaftliches Erzählprinzip: über Wasser. Zweihundert Seiten soll auch der haben, wenn er in zwei Jahren fertig sein wird, sich aber an ein junges Publikum richten: ein Sachcomic für Kinder, in dem personifizierte Moleküle als Erzähler auftreten, aber auch in all die Fakten zum chemisch-physikalisch erstaunlichen Element Wasser zwei abenteuerliche aktuelle Erzählstränge eingewoben werden. Die Recherche läuft längst, bald wird es an die ersten ausgearbeiteten Seiten gehen.

Vor allem aber bleibt nach „Gamma“ mit dem vierbändigen Evolutionscomic ein Buchprojekt, das an die systematischen Ansprüche der philosophischen Entwürfe von Kant, Hegel, Adorno oder Sloterdijk anknüpft, also an den ambitioniertesten, sicher manischsten, aber auch faszinierendsten Teil deutschen Geisteslebens. Und ein Zyklus, das dem Comic neue Horizonte eröffnet hat - nicht nur zeitlich, sondern auch vom Handwerklichen her. Im Abschlussband hat Harder nun auch KI zur gelegentlichen Bildgenerierung genutzt: „Sie halluziniert, so wie auch ich bisweilen bei meiner Zukunftserzählung phantasieren musste, und da hat mich interessiert, was Algorithmen anbieten, wenn man sie nach dem befragt, was aus ihnen entstehen wird.“ Im Gegensatz zu den frühen Bänden sind Harders Seiten für „Gamma“ auch nicht mehr auf Papier entstanden, sondern auf dem Bildschirm. „Was sich in den paar wenigen Jahren, die ich an ,Gamma’ gearbeitet habe, getan hat“, sagt Harder, „das hätte ich nie erwartet.“ Davon ist nur ein Teil in den neuen Comic eingeflossen. Also würde ich nicht darauf wetten, dass es niemals „Delta“ oder „Epsilon“ geben könnte.

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