Israel: Macht es euch nicht zu einfach

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Anmerkungen zur großen Frage, wie man den israelischen Angriff auf den Iran beurteilen soll

16. Juni 2025 DIE ZEIT Nr. 26/2025

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 Am 15. Juni 2025 traf iranischer Raketenbeschuss die Stadt.
Eine Szene aus dem israelischen Rechovot, rund 20 Kilometer entfernt von Tel Aviv: Am 15. Juni 2025 traf iranischer Raketenbeschuss die Stadt. © Avishag Shaar-Yashuv/​The New York Times/​Redux/​laif/​laif

Jede Krise, vor allem ein Krieg, verlangt ein Urteil im Sinne der politischen Theoretikerin Hannah Arendt – etwas, das über das bloße Denken hinausgeht. Es ist ein Akt der Bewertung, der nicht nur die Realität erfassen, sondern auch das eigene Denken infrage stellen muss. Wer über den israelischen Angriff auf den Iran nachdenkt, steht genau vor dieser Aufgabe: ein Urteil zu fällen, das sich nicht mit Stereotypen von rechts und links zufriedengibt.

Rashida Tlaib, eine der prominentesten demokratischen Abgeordneten im US-Kongress, bezeichnete die israelischen Luftangriffe vom 13. Juni auf den Iran auf der Plattform X als "eine gefährliche Eskalation, die zu einem regionalen Krieg führen könnte". Ohne sich um weitere Unterscheidungen zu bemühen, fügte sie hinzu: "Der Kriegsverbrecher Netanjahu wird alles tun, um sich an der Macht zu halten. Wir dürfen ihm nicht erlauben, unser Land in einen Krieg mit hineinzuziehen. Unsere Regierung muss aufhören, dieses Schurkenregime zu unterstützen und zu finanzieren."

Diese Worte sind es wert, zitiert zu werden. Denn sie spiegeln das Denken eines großen Teils der globalen Linken wider. Seit dem 7. Oktober 2023 haben progressive Intellektuelle wiederholt gezeigt, dass sie mit der Lage im Nahen Osten überfordert sind. Man sieht es zum Beispiel daran, dass Tlaib Israel als "Schurkenregime" bezeichnet, ohne auch nur ein Wort über den Iran zu verlieren, ein Regime, das wohl wie kaum ein anderes in den vergangenen Jahrzehnten weltweit Terrorismus gefördert und finanziert hat. Seit der Islamischen Revolution 1979 verfolgt der Iran eine rücksichtslos repressive Politik. Das Regime lässt gezielt Gegner im Ausland ermorden oder kidnappen – wie im Fall der prominenten Journalistin Masih Alinejad, die in New York nur knapp einer Entführung entging. Außerdem unterstützt der Iran bewaffnete Gruppen, die Regierungen in Ländern wie Libanon, Syrien, Irak und Jemen schwächen sollen. Der Iran finanziert auch Anschläge, wie das Bombenattentat 1994 auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires, bei dem 85 Menschen starben. Außerdem unterstützt er verschiedene Terrorgruppen, darunter Al-Kaida, Hisbollah, Hamas, den Islamischen Dschihad und säkulare palästinensische Terrorgruppen. Zur Umsetzung dieser Maßnahmen gründete der Iran die Al-Kuds-Brigaden – eine Abteilung der Revolutionsgarden, zuständig für "unkonventionelle Kriegsführung" und Operationen im Ausland. Abgesehen von Russland ist mir kein anderer Staat bekannt, dessen Anstrengungen derart systematisch auf die Destabilisierung anderer Regime ausgerichtet sind.

Auch im eigenen Land agiert der iranische Staat mit äußerster Härte: Er überwacht, unterdrückt, foltert, sperrt Menschen ein – und tötet, besonders Frauen. Antisemitismus gehört zur Ideologie des Regimes. Der damalige iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini nannte Israel den "Feind der Menschheit" – eine Aussage, die an die schlimmsten Zeiten der Nazi-Ideologie erinnert. 1979 rief Chomeini den "Al-Kuds-Tag" ins Leben, einen offiziellen Feiertag, der ausschließlich der Verurteilung und Dämonisierung Israels dient. Soweit ich weiß, ist das der einzige Nationalfeiertag, der direkt auf die Vernichtung eines anderen Landes abzielt. 1994 sagte der damalige iranische Präsident Ali Akbar Haschemi Rafsandschani: "Kann Israel wirklich weiter bestehen? Diese künstliche Existenz wird nicht überleben." Am Al-Kuds-Tag 2021 prahlte der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden Hossein Salami: "Israel könnte mit einem einzigen Schlag ausgelöscht werden." Und 2023 sagte Präsident Ebrahim Raissi: "Der Zusammenbruch des zionistischen Regimes steht kurz bevor."

Diese und viele andere Drohungen hätten vielleicht als Worte, als bloße Rhetorik abgetan werden können, wenn da nicht das iranische Atomprogramm wäre. Am 12. Juni hat die Internationale Atomenergiebehörde offiziell bestätigt, dass der Iran sich nicht an die Regeln hält. Damit rücken die gefährlichen Absichten des Iran sehr nah an die Wirklichkeit. Trotzdem sehen Rashida Tlaib und ihre ideologischen Verbündeten den Iran nicht als "Schurkenregime". Diese selektive Blindheit entspringt einer romantisierenden Sicht auf die Islamische Republik als angebliche antiimperialistische Kraft. Der Iran versteht es meisterhaft, antikoloniale Rhetorik für seine Zwecke zu instrumentalisieren und so seine aggressiven Ambitionen im Gewand progressiver Tugenden zu kaschieren. In dieser verzerrten Logik wird sogar die Vernichtung des einzigen jüdischen Staates als eine von vielen normalen Kriegsoptionen dargestellt. In der vergangenen Woche hat Israel entschieden, diese Worte nicht länger einfach als leere Drohungen abzutun.

Doch so berechtigt es sein mag, über das intellektuelle Versagen der Progressiven zu spotten, als pauschale Rechtfertigung für Israels aktuelle Kriege taugt das nicht. Der Angriff auf den Iran findet vor dem Hintergrund eines brutalen Krieges in Gaza statt, der Israels Unterstützung erheblich erschüttert und die palästinensische Sache gestärkt hat. Wie in Gaza bleibt auch im Falle des Iran die strategische Zielsetzung unklar: Welche Zerstörung unterirdischer Nuklearanlagen gilt als ausreichend? Was passiert, wenn die USA ihre Unterstützung zurückziehen? Ist ein Regimewechsel realistisch, oder erleben wir nur eine weitere Hybris, wie sie schon bei den US-Kriegen im Irak und in Libyen zu sehen war? Diese Unklarheiten führen zu Israels Premier Benjamin Netanjahu, einem politischen Überlebenskünstler, der wegen Korruption vor Gericht steht und am 18. März ein Angebot für einen Waffenstillstand ablehnte, um den Gazakrieg weiterzuführen. Auch wenn viele in Israel den Angriff auf den Iran unterstützen, während der Gazakrieg das Land spaltet – am Ende sind es zwei Seiten desselben Krieges.

Der tragischste Aspekt aber ist: Netanjahus ultrarechte Koalition erfüllt in vielerlei Hinsicht genau die Pläne Teherans. Nach dem 7. Oktober hat der Iran offenbar seine Strategie geändert: Im Wissen, dass Israel und die Vereinigten Staaten militärisch überlegen sind, setzt Teheran nun auf die Aushöhlung von Israels innerer Stabilität. Der iranische General Gholam Ali Raschid sagte im vergangenen Jahr, dass die Angriffe vom 7. Oktober gezeigt hätten, dass kleine, gut geplante Angriffe aus Gaza, dem Libanon und dem Westjordanland ausreichen, um Israel zu destabilisieren und eine Auswanderungsbewegung auszulösen. Das passiert schon: 2024 haben mehr als 80.000 Israelis das Land verlassen – doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Es handelt sich vor allem um säkulare und gut ausgebildete Menschen, also jene, auf die Israel am dringendsten angewiesen ist. Die wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung dagegen lebt zu großen Teilen von staatlicher Unterstützung und arbeitet kaum.

Das ist die bittere Ironie: Der Iran könnte bald keine militärische Strategie mehr brauchen. Netanjahu und seine Koalition religiöser Extremisten übernehmen die Arbeit für ihn. Während die israelische Demokratie Stück für Stück erodiert, verlieren säkulare Israelis die Bereitschaft, den überproportional hohen Preis ihrer Staatsbürgerschaft zu tragen, sei es durch das Finanzieren der nicht erwerbstätigen Haredim, der ultraorthodoxen Juden und Jüdinnen, oder durch den Dienst in einer Armee, die sich in immer mehr Kriegen wiederfindet. Talente wandern ab, nicht aus Angst vor Raketen, sondern aus Furcht vor einem autoritären Gottesstaat.

Israel hat das Recht, sich gegen eine existenzielle Bedrohung zu verteidigen. Doch es tut dies in einer Zeit, in der die demokratischen Grundlagen des Landes von innen heraus ausgehöhlt werden und das Vertrauen der Bürger in ihre Führung erschüttert ist. Eine Nation zu verteidigen, die sich selbst untergräbt, ist nicht nur ein strategisches Paradoxon. Es ist eine nationale Tragödie.

Aus dem Englischen von Peter Neumann

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