Mascha Schilinski hat sich dem Filmgeschäft über das Casting genähert. In einer Agentur konzentrierte sich die Tochter einer Filmemacherin zunächst auf die Besetzungsauswahl für Kinderrollen. Das merkt man den Filmen an, die sie nun als Regisseurin verantwortet. In „In die Sonne schauen“, ihrem zweiten Spielfilm, der als erster Beitrag im diesjährigen Wettbewerb von Cannes läuft, stehen Mädchen und junge Frauen im Mittelpunkt. Über eine Zeitspanne von hundert Jahren blickt der Film auf vier Schicksale, die sich auf einem Vierseitenhof in der Nähe der Elbe zutragen: Zuerst lernen wir Alma kennen, das rund sieben Jahre alte Kind einer Gutsbesitzerfamilie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Die von der sehr begabten Lea Drinda gespielte Erika ist eine junge Frau, die hier Mitte der Vierzigerjahre lebt. Die nicht minder eindrückliche Lena Urzendowsky gibt Angelika, das aufmüpfige Kind einer Bauernfamilie in den Achtzigerjahren. Und dann gibt es da noch Lia, die nach der Jahrtausendwende mit ihrer Familie aus Berlin aufs Land zieht. Wie verbindet man diese vier Leben, wenn auf klassisches Episodenkino verzichtet wird? Schilinski arbeitet mit dem Raum. Sie lässt Alma gleich zu Beginn in einem Fangespiel das Haus im Rundgang durchlaufen und bietet dem Publikum so Orientierung über den Ort, an dem sich die meisten Szenen dieser 149 Minuten abspielen werden.
Manchmal blendet die Handlung von einer Zeitebene zur nächsten im gleichen Zimmer. Nur ein lautes Rauschen, ein Knistern wie von alten Vinylplatten markiert den Sprung. Meist aber nutzt die Regisseurin Motive, die das Leben aller vier Mädchen verbinden, für sanfte Übergänge. Diese fast schon symbolischen Bilder entstammen zumeist der Natur – Aale erschrecken alle vier zum einen oder anderen Zeitpunkt, weil sie in einem Partyspiel aus einem Zuber gefangen werden müssen, sich beim Schwimmen um die Beine wickeln oder an den Freitod einer Schwester im Wasser erinnern.
So verwebt Schilinski die Erzählebenen, springt immer wieder vor und zurück in der Zeit. Sie dringt dabei so tief in die Köpfe ihrer Figuren, dass man manchmal in ihren Träumen landet. Gerade hier überlappen sich die Bilder, bilden Brücken, weil man erst später feststellt, dass etwas, das man für die Erinnerung einer Figur hielt, in Wahrheit ein Vorgriff auf etwas ist, das einer anderen geschehen wird.

Oft bleibt die Kamera in der Perspektive der Mädchen, blickt durch Schlüssellöcher, nimmt das Geschehen auf der Augenhöhe der Kinder wahr oder wechselt gleich in den subjektiven Blickwinkel. Wenn beispielsweise Alma im schwarzen Trauerkleidchen an sich herunterblickt, nimmt ihr Kleid mit der Samtschleife die ganze Leinwand ein. Zu dieser Kameraeinstellung griff Schilinski bereits in ihrem Langspielfilmdebüt „Die Tochter“ (2017). Darin kehrt ein in Trennung lebendes Paar mit der gemeinsamen Tochter auf eine griechische Insel zurück, um ein Haus zu verkaufen. Zwischen Vater und Mutter flammt die alte Liebe noch mal auf.
Schilinski nahm für diese Erzählung immer wieder die Tochter in den Blick. Wenn das Kind misstrauisch die Erwachsenen beäugte, weil diese plötzlich von sanfter Distanz zu offenem Flirten wechselten, sah man das auf ihrer Augenhöhe. Ähnlich eindrücklich gelingt Schilinski in ihrem Wettbewerbsbeitrag für Cannes die Einfühlung in die heranwachsenden Frauen, die sich gegen bäuerliche Enge, von den Eltern vorgegebene Lebensentwürfe und sexuelle Übergriffe zur Wehr setzen. Der Effekt ist nicht Beklemmung, sondern Befreiung zur Empathie.