Helsinki zeigt den Beginn der Moderne: Madonnen im Stacheldraht

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Die Ausstellung „Gothic Modern – From Darkness to Light“ im Helsinkier Ateneum, der größten Gemäldesammlung Finnlands, ist die wohl gewagteste des Jahres. Während die meisten Menschen die figürliche Moderne mit Picassos „Demoiselles d’Avignon“ im Jahr 1907 beginnen lassen, reklamiert das konzertierte Projekt der Nationalgalerien Finnlands, von Norwegens Nationalmuseum sowie der Wiener Albertina (wohin die Schau jeweils noch wandern wird) und der kuratierenden Kunstgeschichtsprofessorin Juliet Simpson aus Coventry einen erheblich früheren Start. Ab 1875 setze die moderne Figuration in Zentral- und Nordeuropa schon ein, nicht in der Abstrahierung äußerer Form (wie im Fall der afrikanischen Masken der „Demoiselles“), sondern ihrem Wesen nach – befeuert durch die Kunst vor allem der deutschen Spätgotik.

Ihrem Wesen nach ist die Moderne ab 1880 gotisch

Gerade weil Simpson, die als englische Professorin erst einmal jedes nordisch-germanischen „Lokalpatriotismus“ unverdächtig ist, derart auf dem Einfluss der deutschen Kunst der Gotik auf moderne Künstler Norden besteht, hätte man gleich zu Beginn den zweifelsfrei von mittelalterlicher Kunst beseelten Ernst Barlach mit seinen mönchisch meditierenden Figuren oder Lyonel Feininger mit seinem ätherisch-gotisch sich gen Himmel reckenden Kirchlein im thüringischen Gelmeroda als Impulsgeber erwartet – doch die beiden Kronzeugen werden erst im letzten Saal aufgerufen, was chronologisch bei einer untersuchten Zeitspanne von 1875 bis 1925 völlig korrekt ist.

Die Finnen präsentieren stattdessen den weniger bekannten Fall der Kathedrale von Trondheim in Norwegen. Als Zeichen der wiedergewonnenen Unabhängigkeit von Schweden wurde der mittelalterliche Dom im 20. Jahrhundert erneuert und mit einer Schaufassade voller überlebensgroßer Steinskulpturen versehen, die wie ein Setzkasten der Moderne wirkt. Viele bedeutenden skandinavischen Bildhauer der Zeit von Gustav und Emmanuel Vigelund bis hin zu Dyre Vaa verewigten sich hier mit kubistisch-veristisch-neogotischen Heiligen und Scheinheiligen. Die Ateneum-Ausstellung erinnert zurecht an diesen Großauftrag, indem sie Repliken der figürlichen Kapitelle und absonderlichen Wasserspeier Trondholms auf die filigranen Bögen setzt, die den ersten, ganz in Purpur gehaltenen Museumssaal gliedern.

Dazwischen finden sich im Auftaktsaal zahlreiche Bilder der Moderne, die auf bisher zu wenig oder gar nicht beachteten Wegen von der Gotik beeinflusst sind. Zentral ist den Ausstellungsmachern dabei die Präsentation des Isenheimer Altars von Grünewald noch kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs in der Münchner Alten Pinakothek, aber auch vor Soldaten, darunter vielen Künstlern. Es handele sich dabei nicht um eine nationalistische Geste der Beharrung auf dem Elsass und seiner „deutschen“ Kunstschätze nach dem verlorenen Krieg, vielmehr um einen Schwanengesang auf das wichtigste Stück spätgotischer Innerlichkeit.

Die Ausbildungsstätten vieler nordischer Künstler lagen in Deutschland

Dass der Isenheimer Altar in den Zwanzigern den Verismus eines Dix oder Grosz geprägt hat, ist kein Geheimnis. Dass aber Max Beckmann bereits 1903 und Walter Benjamin ebenfalls schon vorher nach Colmar ins Museum Unterlinden gepilgert sind, dürfte weniger bekannt sein. Auch betont der erste Saal nochmals in Abgrenzung zum ebenfalls starken Romanik-Revival des neunzehnten Jahrhunderts, wie entscheidend die nordischen Künstler von der deutschen Romantik insbesondere Caspar David Friedrichs geprägt wurden. Auf Friedrichs Bildern jedoch sind stets nur Ruinen der Gotik zu sehen, niemals romanische, was auch mit der protestantischen Prägung des Künstlers zusammenhängt, da die vorreformatorische Romanik mit der alten, überkommenen Kirche assoziiert wurde - die ersten lutherischen Kirchen wurden daher häufig noch im spätgotischen Stil errichtet.

Um dies überdeutlich herauszustreichen, hat man aus Berlins Alter Nationalgalerie Schinkels „Mittelalterliche Stadt am Fluss“ von 1815 entliehen, deren Herz auf dem Felssporn eine rein gotische himmelstrebende Kathedrale bildet. Ein unmittelbar überzeugender Reflex auf diese Idealstadt mit Dom sind die monumentalen „Felszinnen von St. Olaf“ von Karl Nordström, der die gen Himmel wachsenden Kathedralsteinmassen des preußischen Baumeisters gewissermaßen in Naturstein übersetzt.

Berlin, Karlsruhe, Düsseldorf oder München als Städte und Kunstakademien waren Magnete für skandinavische Künstler. Der finnische Maler-Heros Akseli Gallen-Kallela studierte während seiner Zeit in Berlin immer wieder die Werke Lucas Cranachs in den dortigen Sammlungen. Helene Schjerfberg, die einige der schönsten Frauen- und Kinderporträts um 1900 überhaupt schuf, kopierte wiederholt Hans Holbein, etwa mit seinem berühmten Bildnis des Erasmus. Doch selbst in freien Porträts wie jenem der Schauspielerin Maria schuf sie eine madonnengleiche Aura, die um die Rückenfigur vibriert. Die meist als Präraffaelitin abgetane Marianne Stokes studierte intensiv die Gotik in Deutschland; ihre „Madonna mit Kind“ trägt einen Harnisch der Moderne wie die Maschinenfrau aus Fritz Langs „Metropolis“, die Dornenranken hinter ihr könnten auch Stacheldraht sein. Viele Künstler fesselte zudem Hans Baldung Grien, der Dürer-Freund und Schüler, mit seinem frechen Witz in althergebrachten christlichen Motiven.

Bei einer spätgotischen Kapelle meint man schon MC Escher zu erkennen

Die spätgotische Architektur wiederum, die kurz vor der Renaissance eine irrwitzige Sonderperspektive kultivierte, wie in der MC-Escher-haft aufgeschnittenen „Kapelle“ des Meisters WA eindrucksvoll zu sehen, inspirierte Beckmann und zahlreiche andere Expressionisten.

Und der um 1872 aufblühende Symbolismus etwa eines Arnold Böcklins („Selbstbildnis mit fiedelndem Tod“) oder Edvard Munchs mit seinen Vampirinnen, Totenschädeln und verhärmten Kindern wäre ohne mittelalterliche Wurzeln nicht denkbar. Stellvertretend hierfür ist das Museum mit dem Revaler Totentanz tapeziert, doch auch jener Bernd Notkes in Lübeck lag skandinavischen Künstlern buchstäblich nahe. Genauso bedeutend wie die alle Stände gleichermaßen in den Tod ziehenden Totentänze waren für die Symbolisten Baldung Griens sinistre Hexensabbate, Generationenbilder und ambigue verführerische Madonnen.

Überhaupt die Erotik: Kaum etwas wird weniger mit dem Mittelalter verbunden, kaum etwas aber entzündete sich damals stärker. Legionen von Sündenfallbildern mit Adam und Eva waren willkommener Anlass für saftige Akte der Spätgotik, doch auch die Quälereien und Martyrien oft nackter weiblicher Heiliger entbehren selten einer erotischen Note. Das verstörendste Bild in dieser Hinsicht ist Theodor Kittelsens 1917 bis 1919 gemaltes weit überlebensgroßes Riesenformat „Adam und Eva“, auf dem man Zeuge des ersten Familiendramas der Menschheit wird. Die Stammeltern unter gotisch-giottesken Dreiecks-Arkaturen wenden sich kalt den Rücken zu, die durch ihren Lapsus in die Welt gekommene Saat des Bösen, Kain, symbolisiert ein düster-brauner Vorhang zwischen den beiden mit mittelalterlich dänischem Würfelmuster.

Ein Künstler ging soweit, nur noch mittelalterlich zu malen

Auch die Bildung neomittelalterlicher Kommunen gehört dazu. Manche Künstler ziehen sich in bäuerliche Kommunen auf dem Land zurück (das frühe „Zurück zur Natur“ als Gegenbewegung zur überfordernden Industrialisierung der Städte wird in der Schau vor allem gespiegelt in Dürers Radierungen des „Bauernlebens“), andere bleiben in den Städten, gründen aber dort gleichsam mönchische Bünde. Im Zentrum des „Communities“-Saals steht Georg Minnes ergreifende Bronzeplastik einer innig wie eine Pietà verschlungenen Menschengruppe.

Max Beckmann, der ohnehin viele seiner Motive christlicher Kunst und die fettschwarzen Konturen seiner Figuren der gotischen Glasmalerei mit ihren dicken Bleiruten um die Farbfelder entlehnt, ist mit einem sogenannten volkreichen Kalvarienberg vertreten, eine Bildinnovation seit 1300, die die Umstehenden am Kreuz Christi von ursprünglich nur Maria und Johannes urplötzlich verdutzendfacht. Und nicht zuletzt greifen die modernen Neogotiker um 1880 auch mittelalterliche Kunsttechniken wie das Malen auf per se ab­strakt verschwommenem Goldgrund auf. Hugo Simberg geht so weit, für seine Miniaturmalerei „Hunger“ eines darbenden Kindes mit in althergebrachter Manier geriebenen Farben auf Pergament zu malen, nachdem er zuvor die Leinwandmalerei aufgegeben hat.

Bei all den windschiefen Hütten in der skandinavischen Kunst wie in der frühexpressionistischen Van Goghs hat niemand ein Problem, mittelalterliche Architektur als Vorbild zu erkennen. Bei Van Goghs seltenst gezeigtem „Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette“ von 1886 aber denkt kaum jemand an die Gotik. Dabei erwähnt der mit pittoresken spätgotischen Städten der Niederlande wohlvertraute Künstler in Briefen ständig Holbein und dessen vierzigteiligen Totentanz, den er in all seinen Verrenkungen kannte und so leicht als rauchenden Schädel aktualisieren konnte. Solch unsichtbare Wurzeln der Moderne lohnen den Weg nach Helsinki, erst recht die dem deutschen Publikum größtenteils unbekannten Bilder der Moderne Nord.

Gothic Modern. From Darkness to Light, 1875–1925. Ateneum, Helsinki; bis zum 26. Januar 2025. Der Katalog kostet 38 Euro.

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