Fast zwei Jahre nach dem tödlichen Untergang des Fischkutters »Adriana« vor der Küstenstadt Pylos mit mutmaßlich Hunderten toten Migranten droht mehreren Mitarbeitern der Küstenwache ein Prozess.
Wie sechs Nichtregierungsorganisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme mitteilen, erhebt die griechische Staatsanwaltschaft Anklage gegen 17 teils hochrangige Mitarbeiter der griechischen Küstenwache.
Die Organisationen, die Überlebende und Angehörige von Opfern der Katastrophe juristisch vertreten, geben an, vom Büro der stellvertretenden Staatsanwältin des Seegerichts Piräus über den Abschluss eines vorläufigen Ermittlungsverfahrens informiert worden zu sein. Die Staatsanwaltschaft habe nun eine Hauptuntersuchung beantragt.
Unter den Angeklagten sind demnach:
Der Kapitän des Küstenwachenschiffs »LS920«, das in die Havarie der »Adriana« maßgeblich verstrickt war. Ihm wird demnach vorgeworfen, für den Untergang der Adriana verantwortlich zu sein und gefährlich in den Schiffsverkehr eingegriffen zu haben, was letztlich zu mindestens 82 Todesfällen geführt habe. Auch soll der Kapitän seinen seemännischen Hilfspflichten nicht nachgekommen sein.
Die Besatzung der »LS920« wegen Mittäterschaft in den ersten beiden oben genannten Punkten.
Des Weiteren werden die gesamte Besatzung, der damalige Chef der griechischen Küstenwache, der Leiter des griechischen Such- und Rettungskoordinationszentrums (EKSED) sowie zwei wachhabende Offiziere beschuldigt, die Migranten auf der »Adriana« einer lebensgefährlichen Situation ausgesetzt zu haben.
Es ist demnach das erste Mal, dass die griechische Justiz derartige strafrechtliche Schritte gegen hochrangige Vertreter der Küstenwache einleitet.
Allerdings gibt es im griechischen Rechtssystem mehrere Vorbereitungsphasen. Die Anklage bedeutet also nicht zwingend, dass es zu einem Prozess kommt.
Die griechische Küstenwache sieht sich seit Jahren schweren Vorwürfen ausgesetzt. So hatte beispielsweise der SPIEGEL gemeinsam mit weiteren Recherchepartnern nachgewiesen, dass in der Ägäis Migranten in antriebslosen Rettungsflößen auf dem Meer ausgesetzt wurden. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex machte sich bei den Rechtsbrüchen zur Komplizin, der damalige Direktor Fabrice Leggeri, musste deshalb zurücktreten.
Doch in Griechenland wurden bisher keine Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen. Ermittlungen versandeten, Anklagen oder Urteile gab es nicht.
Recherchen belasten griechische Küstenwache
Auch nach dem Schiffbruch der »Adriana« hatten internationale Recherchen, unter anderem des SPIEGEL , die griechische Küstenwache belastet.
Bereits Stunden bevor der Fischkutter mit bis zu 750 Menschen an Bord in der Nacht zum 14. Juni 2023 weit vor der griechischen Westküste sank, wusste die griechische Küstenwache demnach von der prekären Situation an Bord.
Doch statt konkrete Hilfsmaßnahmen einzuleiten, eskortierte das Küstenwachenschiff »LS920« die mit Motorproblemen nur langsam vorankommende »Adriana« zunächst nur. Laut Überlebenden soll sich die Küstenwache schließlich zum Abschleppen des Kutters entschieden haben. Dann soll es zur Katastrophe gekommen sein.
Wie 15 der insgesamt 104 Überlebenden dem SPIEGEL und seinen Partnern übereinstimmend schilderten, habe die Küstenwache den Kutter bei hohem Tempo gezogen, erst nach rechts, dann nach links, schließlich wieder nach rechts – dann sei er gekentert.
104 Überlebende und 82 Tote wurden danach aus dem Wasser gezogen, eine zu Hilfe gerufene Megajacht brachte Dutzende in der Hafenstadt Kalamata an Land.
Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte indes noch weit höher liegen. Mutmaßlich Hunderte weitere Menschen, die im Rumpf der »Adriana« eingeschlossen waren, sanken mit dem Schiff in den Tod. Das Mittelmeer ist am Ort des Untergangs mehrere Tausend Meter tief, das Wrack wurde bislang nicht geborgen.
Auch die anschließenden Ermittlungen zu dem Unglück durch die griechische Küstenwache gerieten schnell in die Kritik. Überlebende berichteten dem SPIEGEL, dass ihre Aussagen manipuliert worden seien. Auf Basis der Ermittlungsakten wurden schließlich neun Überlebende wegen angeblicher Schmugglertätigkeiten angeklagt und inhaftiert. Im Mai 2024 – rund ein Jahr nach der Katastrophe – wurde die Anklage gegen die Männer fallengelassen.
Ob die Havarie ein Unfall war oder von der Küstenwache absichtlich herbeigeführt wurde, ist jedoch bis heute nicht abschließend geklärt. Ein Prozess könnte das ändern.
NGOs begrüßen Verfahren
Die deutsche NGO Pro Asyl begrüßte das Vorgehen der Justiz. »Die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Angehörige der Küstenwache ist ein überfälliger Schritt und gibt den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden ein Stück Hoffnung auf Gerechtigkeit«, sagte Pro Asyl-Geschäftsführer Karl Kopp.
Erfreut über die Anklagen zeigt sich auch die Organisation Human Rights Watch (HRW). »Die historischen Anklagen des Staatsanwalts des Marinegerichts gegen Offiziere der griechischen Küstenwache geben Anlass zur Hoffnung auf Wahrheit und Verantwortlichkeit für das schlimmste Schiffsunglück im Mittelmeer der letzten Jahre«, teilte HRW-Europadirektorin Judith Sunderland mit.
Gerechtigkeit in dem Fall der »Adriana« könne dazu beitragen, »den Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit an Griechenlands Grenzen zu beenden«, so Sunderland.