Gefahr für Igel und Co.: Der Laubbläser ist der Fluch des Herbstes

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Ist das Laub oder kann das weg, möchte man in Abwandlung einer berühmten Herabsetzung zeitgenössischer Kunst formulieren. Nein, das kann auf keinen Fall weg, lautet die Antwort in beiden Fällen, also Natur wie Kunst betreffend. Das Laub ist eine nicht erkannte Ressource der Natur, wie die „Fat Battery“ oder „Fettecke“ von Joseph Beuys zum nicht erkannten Kunstwerk wurde. Was kann die Natur? Sie bietet mit dem Laub Material für die Winterschlafnester der Igel. Laub, das verrotten darf, führt dem Boden Nährstoffe zu und bewahrt ihn vor Austrocknung. Das Laub schützt die gesamte Bodenlebewelt – Spinnen, Insekten und Kleinsäuger.

Wenn im Herbst die Blätter fallen, weicht mit ihnen das Romantische aus den Bäumen. Der „Baumgesang“ (Ludwig Tieck) verstummt. In Joseph von Eichendorffs Gedicht „Der Abend“ heißt es: „Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde, wie in Träumen, / Wunderbar mit allen Bäumen, / Was dem Herzen kaum bewusst, / Alte Zeiten, linde Trauer, / Und es schweifen leise Schauer / Wetterleuchtend durch die Brust.“ Solange die Blätter das Waldesrauschen erzeugen, Schatten spenden oder vor Regen schützen, sind sie Gedicht, sind sie Gesang.

Als die Erfahrung der Natur zum Paradoxon wurde

„Die Korrespondenzeffekte zwischen Wald und Seele . . . sind Ausdruck einer romantischen Vereinigungsphantasie zwischen Ich und Umwelt, zwischen Dichter und Natur“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Klara Schubenz in ihrem Buch mit dem Titel „Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Geschichte einer romantisch-realistischen Ressource“.

Das Blätterrauschen ist die musikalische Untermalung dieser Vereinigung. Schubenz verweist auch auf die historische Datierung dieses Verhältnisses, wie Hartmut Rosa es in „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ nachvollzieht: „Die Stimme der Natur (Kursivsetzungen vom Autor) ist eine moderne Erfindung. Sie setzt voraus, dass Mensch und Natur als geschlossene, jeweils ihre eigene Sprache sprechende und deshalb sich auch potentiell widersprechende Entitäten wahrgenommen werden können. Sie setzt darüber hinaus auch voraus, dass Menschen Natur auch in einem Modus der stummen, verdinglichenden Beziehung instrumentell bearbeiten, behandeln und erfahren können.“

 Ein Igel, der Zuflucht im welken Laub gesucht hat.Er ist das erste und wehrloseste Opfer der Laubbläser: Ein Igel, der Zuflucht im welken Laub gesucht hat.picture alliance / imageBROKER

Die Naturerfahrung wird zu einer paradoxen. Einerseits sieht das Ich in der Naturerfahrung ein Eintauchen in die eigene Seele. Andererseits ist die von Rosa als Verdinglichung bezeichnete Verdrängung der Natur die Bedingung ihrer Zerstörung durch den Menschen. Beim Waldbaden am Wochenende rauschen die Wälder wie in Beantwortung der menschlichen Suche nach sich selbst. Am Montag greift der Mensch zum Laubbläser. Den Widerspruch der Bodenlebewesen hören die wenigsten Menschen.

Eichendorffs „laute Lust“ des Menschen, aus der die Soziologie den „Lärm der sozialen Welt“ macht, beides verstummt nicht angesichts von verwelkendem Laub. Eben sind die grünen, vom Wind durchspielten Blätter noch das lebendig bewegte Erhabene gewesen, schon sind es die am Boden liegenden, staubtrockenen oder nass-matschigen Blätter nicht mehr. Laub ist Dreck. Laub als Schmutz stört auf dem Bürgersteig, auf dem Rasen, überall. Die Perfektionierung der Entfremdung des Menschen von der Natur nimmt als Laubbläser Gestalt an. Wildtierexperten und Naturschützer rufen in diesem Herbst vernehmlicher denn je zum Verzicht auf die Geräte auf, die mit Lautstärken von mehr als 100 Dezibel betrieben werden, Luftgeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern erzeugen und je nach Modell als Laubsauger auch noch mit integrierten Häckslern arbeiten. Die Deutsche Wildtierstiftung fordert dazu auf, die Laubbläser „in die Schuppenecke“ zu stellen.

 Laub sollte man harken, nicht dröhnend vor sich her blasen.Es ist leiser, umweltschonender, und freundlicher zu Igeln und anderen kleinen Lebewesen: Laub sollte man harken, nicht dröhnend vor sich her blasen.dpa

Argumente dafür gibt es genug. Laubbläser sind für Igel lebensgefährlich. Gerade die mit 150 Gramm Lebendgewicht das Nest im Herbst verlassenden Jungigel, die nicht größer sind als ein Tennisball, liegen gerne mal in einem Laubhaufen und werden dann von dem Laubbläser durch die Gegend geschleudert. Wenn sie Glück haben, werden sie gefunden, aber wie rettet man einen Mini-Igel mit multi­plen Knochenbrüchen?

Größere und ältere Igel bauen sich die Winterschlafnester aus trockenem Laub, in das sie sich einrollen. Das Nest kann weggeblasen und zerstört werden, und selbst die Igel, die rechtzeitig aufwachen, um zu fliehen, verlieren so viel Energie auf der Flucht, dass es ihr Überleben bis zum Frühjahr gefährdet. Die Verhaltensökologin Anne Berger vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin schreibt auf Anfrage: „Ich persönlich bin für ein absolutes Verbot von Laubbläsern.“ Zur Begründung verweist sie auf den Energieverbrauch, den Lärm, die Zerstörung von Lebensgrundlagen für Tier- und Pflanzenarten und fragt abschließend: „Was ist das alles gegen die leise, schonende und nachhaltige körperliche Arbeit mit einer Harke?“

Ja, was? Wenn sich doch das paradoxe moderne Naturverhältnis als zerstörerisch herausstellt, brauchen wir eine neue Definition der Beziehung von Mensch und Natur, eine konservatorische, restaurative, akribische, detailversessene, eine wissenschaftliche Beziehung, wie sie Kunsthistoriker zu Joseph Beuys und seinen unterschiedlichen Fettarten pflegen – die übrigens meistens Margarine waren.

Iris Winkelmeyer, ehemalige Chefin der Restaurierungsabteilung im Münchner Lenbachhaus und inzwischen freiberuflich arbeitende Konservatorin, hat in einem Interview beschrieben, wie sie einen kleinen Fettfleck, „den Beuys mit dem Daumen auf ein Betttuch geschmiert hatte“, restaurierte. Sie unterlegte dem abgefallenen Fleck „millimeterlange winzige Zettel aus Japanpapier“, auf die sie den Fettfleck transportierte und an seiner neuen Unterkonstruktion dann mit Kaltfischleim auf das Betttuch klebte. Respekt, Sorgfalt, Erfindungsreichtum – das ist der Geist, den wir brauchen.

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