Die öffentliche Diskussion über Frauke Brosius-Gersdorf ist, was die wissenschaftlichen Positionen der vom Wahlausschuss des Bundestags als Richterin des Bundesverfassungsgerichts empfohlenen Professorin betrifft, höchst selektiv. Ihre 1997 publizierte verfassungsrechtliche Doktorarbeit hat das Verhältnis zwischen der Autonomie der Bundesbank und dem Demokratieprinzip zum Gegenstand, betrifft also den Themenkreis der Gewaltenteilung unter den heutigen Handlungsbedingungen der Politik, das Zusammenwirken von sogenannten nicht-majoritären und majoritären Institutionen, welches das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit in etlichen gewichtigen Entscheidungen beschäftigt hat, auch jenseits der Währungspolitik. Erst in allerletzter Minute, an dem Tag, an dem die Abstimmung über die Empfehlung des Wahlausschusses auf der Tagesordnung des Bundestags stand, wurde die Dissertation thematisiert – und nicht aus inhaltlichen Gründen.
In ihrem Auftritt bei Markus Lanz hat Brosius-Gersdorf beklagt, dass Bischöfe und Politiker über sie geurteilt hätten, ohne sich mit ihrem „wissenschaftlichen Wirken in der gesamten Breite“ auseinanderzusetzen; von Schwerpunkten wie Schule, Sozialversicherungsrecht und Rente sei nicht die Rede gewesen. Offenbart diese Beschwerde eine politische Naivität, die Zweifel an der Eignung für den Rollenwechsel von der Professorin zur Verfassungsrichterin wecken kann? Öffentliche Aufmerksamkeit ist immer selektiv. Es ergibt sich aus der Natur der Sache, dass Reizthemen wie allen voran die Abtreibung bei Laien, die sich sehr schnell von den praktischen Folgen theoretischer Standpunkte einer Rechtsexpertin ein Bild machen wollen, ein Störgefühl hervorrufen können, um eine Kategorie zu bemühen, die Markus Lanz in seiner öffentlichen Einvernahme der Richterkandidatin gleich mehrfach verwendete.
Gab es eine Kampagne?
Gegen Frauke Brosius-Gersdorf gab es eine Kampagne. So stand es in der F.A.Z. an zwei Stellen der gestrigen Ausgabe. Anderenorts wird diese Beschreibung der Dinge bestritten. Eine Kampagne, auf Deutsch ein Feldzug, also eine Sache von Strategie und Planung? Das sei eine Verschwörungstheorie.
Der Widerstand in der Unionsfraktion wird zum Aufstand des Gewissens stilisiert. Vom Gewissen glaubt man, dass es sich spontan regt; deshalb wird der Gedanke an Koordination zurückgewiesen. Die Managementfehler Jens Spahns boten in dieser Sicht den Abgeordneten eine unverhoffte Gelegenheit, das Wertefundament des Grundgesetzes im Modus der Aufwallung zu verteidigen. Doch die in öffentlichen Diskussionen unvermeidliche Selektion vollzieht sich nicht automatisch. Wenn eine Stimmung kippt, sind Akteure beteiligt. Manche agieren öffentlich, manche verdeckt, manche halbverdeckt. Aufmerksamkeit wird gelenkt, Themenwahl kann gesteuert werden, durch geschickte Hinführung.
Vorbereitung für eine Internetrecherche
Einen solchen Vorgang in der Sache Brosius-Gersdorf hat jetzt eine Recherche von T-Online aufgedeckt. Die Steuerung konnte gelingen, weil sie der Sache vorausging, weil der Versuch unternommen wurde, bevor die öffentliche Diskussion begonnen hatte. In der F.A.Z. wurde am 3. Juli der Beginn des Unmuts wie folgt geschildert: „Nachdem Abgeordnete auf der Internetseite der F.A.Z. gelesen haben, dass sie nach dem Wunsch der Fraktionsspitze in der kommenden Woche die von der SPD vorgeschlagene Staatsrechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin wählen sollen, ist der Gesprächsbedarf groß.“ Was tun Leute, die im Internet etwas gelesen haben, das bei ihnen ein Störgefühl oder auch nur die Ahnung eines Störgefühls auslöst? Sie setzen die Internetrecherche fort.
Der Name Brosius-Gersdorf war vor der Online-Vorabmeldung der F.A.Z. vom 30. Juni jenseits der Fachwelt unbekannt. Die erste und wichtigste Adresse für die Schließung von Wissenslücken ist heute die Internetenzyklopädie Wikipedia. Wer an den drei Tagen des 30. Juni bis 2. Juli den Wikipedia-Eintrag von Frauke Brosius-Gersdorf aufrief, fand jenseits eines Abrisses ihrer akademischen Laufbahn drei Sätze über ihre rechtswissenschaftlichen Ansichten zu einem einzigen Thema: Abtreibung.
Nun kompensieren die organisierten Lebensschützer ihre in demokratischen Verfahren auf absehbare Zeit schwerlich zu beseitigende Minderheitsstellung mit publizistischem Eifer. So musste man nicht darüber stolpern, dass zu Brosius-Gersdorf in der Wikipedia ihre Mitwirkung an der von der Ampelregierung berufenen Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin und sonst nichts Inhaltliches vermerkt war.

Aber diese Information war in den Eintrag erst am 25. Juni eingefügt worden, fünf Tage vor der ersten Meldung über ihren Namen. Schlägt man im Archiv der Wikipedia den Bearbeiter nach, also den Autor der Sätze über Brosius-Gersdorf und die Abtreibung, stößt man auf seinen Klarnamen, das heißt seinen bürgerlichen Namen. Er hat sich jetzt auch damit verteidigt, dass er seine Autorschaft nicht vertuscht habe. Es handelt sich um einen Fachkollegen von Brosius-Gersdorf: Ekkehart Reimer, Professor für Öffentliches Recht, Europäisches und Internationales Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
Drei Bearbeitungen in dreizehn Jahren
Deutschen Wissenschaftlern wird im internationalen Vergleich eine für ihren immer noch konservativen Habitus typische Zurückhaltung gegenüber der Wikipedia bescheinigt, und auch der Benutzer „E. Reimer“ hatte vor dem 25. Juni in 13 Jahren nur zwei weitere Beiträge bearbeitet. Er hinterlegte die Angaben über Brosius-Gersdorf und die Abtreibung im Vorgriff auf die öffentliche Diskussion, die nach der Bekanntgabe des Vorschlags zu erwarten stand. Reimer ist seit 2020 Vorsitzender des Vereins, der das Cusanuswerk trägt, das Begabtenförderungswerk der katholischen Kirche – was in seinen Wikipedia-Artikel erst am 16. Juli eingetragen wurde.

Gegenüber T-online rechtfertigte sich Reimer damit, dass Brosius-Gersdorfs Nominierung am 25. Juni im Fach der Staatsrechtslehrer schon „allgemein bekannt“ gewesen sei. Er habe die Ergänzung zum Stichwort Abtreibung vorgenommen, „weil diese Frage in der in diesen Tagen aufkeimenden politischen und wissenschaftlichen Diskussion zentral, in der vorherigen Wikipedia-Fassung aber unterbelichtet, ungenau und unbelegt war“. Das hier beschworene Aufkeimen darf man sich nicht nach dem Modell des Keimens der befruchteten Eizelle vorstellen, als von außen unbeeinflusstes Heranwachsen. In der Sache ist Reimers Behauptung eine dreiste Unwahrheit: In der von ihm am 25. Juni vorgefundenen, seit dem 13. Februar 2025 unveränderten Fassung des Artikels war die Abtreibungsfrage nicht etwa unterbelichtet – sie kam nicht vor.
Dass die von Reimer redigierte Fassung Brosius-Gersdorf 20 Minuten lang, bis er selbst seinen Fehler korrigierte, die Absicht zuschrieb, Abtreibung „in den ersten 12 Monaten der Schwangerschaft“ zu erlauben, mag man als Kuriosum verbuchen; die monströse Überzeichnung des Reformvorschlags, die Reimer hier versehentlich unterlief, wiederholte sich in späteren Stadien der Kampagne bei anderen Akteuren mit Absicht – so zeugt sich der Phantasieüberschuss der Werteschützer fort. Bei Gelegenheit der Korrektur seines Lapsus änderte Reimer auch seine Formulierung „war sie stellvertretende Koordinatorin“ in „engagierte sie sich als“. Subtil setzte er den Ton: Was als Engagement beschrieben wird, kann als Aktivismus skandalisiert werden.
Das Gerücht vom illegitimen Bruch
Das tut Reimer nun selbst, indem er gegenüber T-online darlegt: „Ich nehme sie als Aktivistin wahr, die über eine Neuinterpretation des Grundgesetzes ein deutsches ‚Roe v. Wade‘ erreichen will. Darin liegt ein Bruch mit der gesamten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 GG.“ Aber warum hat er in den vergangenen zwei Wochen nicht die öffentliche Diskussion über diese Frage gesucht, statt das Material dafür in der Wikipedia zu deponieren? Rücksicht auf die Person der Kollegin kann es nicht gewesen sein, scheute er doch nicht davor zurück, sie auf Bluesky am 8. Juli als „das Problem“ zu bezeichnen.
Einen wesentlichen Punkt des von Brosius-Gersdorf mitverantworteten Kommissionsberichts referierte Reimer in der Wikipedia in indirekter Rede: „Der Gesetzgeber sei nicht an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden, nach der die Abtreibung wegen des Lebensrechts des Embryos (Art. 2 Abs. 2 GG) zwar straffrei, aber – von Sonderfällen abgesehen – nicht rechtmäßig sein dürfe.“ Das Referat war korrekt, die Information scheint unanstößig. In der journalistischen Kommentierung wurde wenig später aber suggeriert, Brosius-Gersdorf sei eine Radikale, weil sie von der bisherigen Rechtsprechung abweichen wolle.
Man unterstellt ihr eine geheime Agenda des Verfassungsumbaus, doch es wird der Öffentlichkeit zu denken geben, dass ein Kritiker, den sein eigenes Amt zur öffentlichen Lehre im Staatsrecht verpflichtet, den Vorwurf vorsichtshalber lieber heimlich lanciert hat.