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Aus Politik und Wirtschaft kennt man das Phänomen: Die Lage ist gar nicht so schlecht, aber die Stimmung im Lande ist trotzdem düster. Bei der Fußballnationalmannschaft der Männer kann man es andersherum betrachten. Das Selbstbewusstsein ist strotzend, dabei befindet sich diese Mannschaft vor dem Nations-League-Halbfinale gegen Portugal am Mittwoch (21 Uhr/Liveticker bei SPIEGEL.de; TV: ZDF) in einer diffusen Gemengelage.
Anderes im Kopf
Fehlend sind zudem der mögliche Rüdiger-Ersatz Nico Schlotterbeck, der im Pokalfinale so überragende Angelo Stiller, die beiden Mainzer Offensivkräfte Nadiem Amiri und Jonathan Burkardt.

Florian Wirtz beim DFB-Training: Tendenz Richtung Liverpool
Foto: Jenni Maul / Eibner-Pressefoto / IMAGOSo viel zur reinen Personalsituation. Aber unter denjenigen, die zu den spielfähigen Aufrechten gehören, sind einige angereist, die derzeit anderes im Kopf haben als Cristiano Ronaldo und Co.
Um Florian Wirtz hat sich ein wochenlanger Transferpoker entsponnen, inklusive Medienhype – auch wenn die Tendenz deutlich Richtung Liverpool geht, ist seine Zukunft noch nicht entschieden. Jonathan Tah hat gerade erst seinen Wechsel zu den Bayern verkündet, nach zehn Jahren in Leverkusen hat er den Sprung gewagt, für ihn ein enormer Schritt.
Gerüchte aus Spanien
Die Vereinssituation von Leroy Sané in München ist völlig ungeklärt. Geht er? Bleibt er bei den Bayern, und wenn ja: unter welchen Konditionen? Klar ist: Auf ihn wird am Mittwoch besonders aufmerksam geschaut. Sané spielt vor, auch vor möglichen Interessenten. Er steht unter Druck.

DFB-Elf beim öffentlichen Training in Herzogenaurach: »Gewinnermentalität«
Foto:Daniel Karmann / dpa
Als ob das alles nicht schon genug wäre, wogten zu Beginn der Woche Gerüchte aus Spanien ins beschauliche Herzogenaurach. Gerüchte, nach denen der FC Barcelona nach zehn Jahren genug von den Diensten seines Torwarts Marc-André ter Stegen habe und sich nach neuen Keepern umschaue. Ter Stegen kommt gerade erst nach einer schweren Verletzung und monatelanger Pause wieder in Tritt. Barça-Präsident Joan Laporta soll die treibende Kraft hinter diesem Vorhaben sein, heißt es in der spanischen Presse.
Mit diesem Rucksack belastet trat der 33-jährige Torwart am Sonntag zur DFB-Pressekonferenz an und tat das, was Fußballprofis in solchen Situationen oft tun. Er versuchte, alles wegzuwedeln. Das Thema »beschäftigt mich nicht«, er sehe seine Zukunft in Barcelona. Hat er Bedarf, deswegen mit seinem Klubtrainer Hansi Flick zu sprechen? »Es hat keinen Kontakt gegeben in den letzten Tagen. Ich wüsste auch nicht, warum? Es ist jetzt keine Situation entstanden, über die man reden müsste.«
Allen Widerständen trotzend
Er hätte auch sagen können, dass es ihn schmerze, nach so vielen erfolgreichen Jahren im Klub Kenntnis von solchen Meldungen zu bekommen, nachdem man sich aus einer langwierigen Verletzung wieder zurückgekämpft habe. Er hätte sagen können, dass so etwas verunsichernd sei.
Jeder hätte das verstanden. Aber es hätte nicht in den Duktus dieser derzeitigen Mannschaft gepasst.

Marc-André ter Stegen schreibt Autogramme in Herzogenaurach: »Keine Situation, über die man reden müsste«
Foto: Federico Gambarini / dpaDie Devise spätestens seit dem vergangenen Frühjahr unter Julian Nagelsmann, als diese DFB-Elf sich selbst wiedererweckte, lautet: Es gibt kein Jammern, es gibt kein Klagen. Es gibt nur Selbstvertrauen.
Es ist ein neues Selbstverständnis dieser Mannschaft entstanden, das allen Widerständen trotzt bis zu der Grenze, die Realität im eigenen Sinne zu verschieben. Man tut einfach so, als gäbe es die Widerstände gar nicht.
Niclas Füllkrug formulierte es so: »Das ganze Land geht davon aus, dass wir dieses Turnier gewinnen.« Das sagt ein Spieler, der als Mittelstürmer eine enttäuschende Saison mit West Ham United erlebte, gespickt mit Verletzungen, Ersatzbank-Einsätzen und gerade mal drei Treffern. So einer könnte voller Frust anreisen, Füllkrug schwärmt hingegen von der »Gewinnermentalität«.
Dauerthema Transfer
Als Joshua Kimmich, der Kapitän, der vor seinem 100. Länderspiel steht, auf die vielen Verletzungsabsagen angesprochen wurde, zuckte er die Achseln und sagte nur: Es bringe nichts, über die hier fehlenden Spieler zu reden. »Wer nicht hier ist, kann uns auch nicht helfen.«
Dass Spieler wie Wirtz aufgrund des Dauerthemas Transfer den Kopf nicht freihaben könnten, das ist für Kimmich kein Thema: »Ich konzentriere mich hier nur auf ihn als Nationalspieler«, sagte der Kapitän.

Bundestrainer Julian Nagelsmann: »Fragiles Gebilde«
Foto: Federico Gambarini / dpaNagelsmann hat den Klang vorgegeben: Über die fehlenden Leistungsträger wird so wenig wie möglich gesprochen. Das würde nur die Tonalität ins Negative ziehen. Das Motto hat zu lauten: Der Kader ist stark genug.
Das Mia-san-Mia der Nationalelf
Ob er das wirklich ist, kann man bezweifeln. Als Gegner warten die Portugiesen, so exzellent besetzt wie lange nicht, allein mit drei Stammkräften aus der PSG-Mannschaft, die am Samstag in überragender Manier die Champions League errang. Die anderen Halbfinalisten sind der Vizeweltmeister Frankreich und Spanien, das Überteam Europas, vielleicht derzeit das beste der Welt.
Aber das darf alles keine Rolle spielen: Nagelsmann hat den Gewinn der Nations League als klares Ziel ausgerufen und diese Trophäe als Starthilfe für die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr auserkoren. Bei der WM soll es dann bitte schön auch der Titel sein.
Bei jeder Gelegenheit erinnert der Bundestrainer daran, dass Spanien der Titelverteidiger der Nations League sei und der damalige Gewinn 2023 das Trittbrett für den EM-Titel. Das soll die Motivation heben, kann man aber auch als Gesundbeterei interpretieren. Als Portugal 2019 die erste Auflage der Nations League gewann, folgte danach eine enttäuschende EM 2021.
Diese Mannschaft signalisiert zumindest nach außen eine Wasserdichte gegen Selbstzweifel. Es ist die Mia-san-Mia-Mentalität, die der FC Bayern kultiviert hat und die man ihm in den internationalen Wettbewerben der Vorjahre zuweilen gewünscht hätte. Die DFB-Elf als Uns-doch-egal-Team. Egal, wie viele Ausfälle, egal, welche anderen Wirrungen es gibt. Wir glauben an uns.
Der Bundestrainer hat in dieser Woche aber auch, eher beiläufig, einen anderen Satz gesagt. Mit Blick auf das Nations-League-Viertelfinale gegen Italien, jenes turbulente 3:3 im März, sagte er: Die zweite Halbzeit, als die Azzurri einen 0:3-Rückstand fast noch drehten, habe gezeigt, »wie fragil das ganze Gebilde noch ist«.
Das kommt der Wahrheit wohl am nächsten.