Deutsche Fußballerinnen bei der EM: Das Risiko des Christian Wück (und warum er glaubt, keine Alternative zu haben)

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Christian Wück saß auf dem Podium der Pressekonferenz und wusste nicht, was er eigentlich sagen wollte. Also versuchte er, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es nicht viel zu riskant sei, mit so offensiv ausgerichteten Außenverteidigerinnen zu spielen. Ob man jetzt nicht eine Kurskorrektur benötige.

Dann unterbrach er sich selbst: »Ich verstehe die Frage gar nicht so richtig.«

Bundestrainer Wück und die deutschen Fußballerinnen hatten gerade eine 1:4-Niederlage gegen Schweden hinnehmen müssen – die höchste bei einer EM der Frauen in der DFB-Geschichte. Die Gegnerinnen hatten die deutschen Schwächen schonungslos offengelegt: Sie hatten die deutsche Abwehr teilweise überrannt und eklatante Stellungsfehler der Innenverteidigung ausgenutzt.

Zwar nannte Wück die Rote Karte für Carlotta Wamser in der 34. Minute als Kippmoment des letzten Gruppenspiels, doch das stimmte nur bedingt. Die Außenverteidigerin verhinderte mit ihrem Handspiel bloß das sichere 1:3, das Spiel lief nach einer starken deutschen Anfangsphase bereits klar in Richtung der Schwedinnen. In Unterzahl wurde es natürlich nicht einfacher.

3 verhindert, danach per Elfmeter aber kassiert

Wamsers Handspiel und Rote Karte: Das 1:3 verhindert, danach per Elfmeter aber kassiert

Foto: Matthias Hangst / Getty Images

Sie wirft außerdem die Frage auf, ob der Trainer beim nächsten Spiel am Samstag wirklich wieder so viel Risiko gehen kann wie nun gegen Schweden. Ob man mit einer derart offensiven Ausrichtung nicht auch gegen Frankreich, England oder die Niederländerinnen offen ins Verderben rennen würde.

Als Wück verstand, was die Medienvertreter da eigentlich wissen wollten, moderierte der Bundestrainer diese Frage in seltener Klarheit ab.

»Es liegt nicht in dieser Mannschaft, dass wir uns hinten reinstellen«

»Es ist falsch, wenn wir sagen, wir wollen jetzt nur reagieren und nur zerstören«, sagte der 52-Jährige. Er habe dafür gar »die falschen Spielerinnen. Es liegt nicht in dieser Mannschaft, dass wir uns hinten reinstellen und versuchen, die Null zu halten und nichts nach vorn zu tun.«

Wück hat die deutsche Auswahl im vergangenen Herbst von Horst Hrubesch übernommen und praktisch ab Tag eins den Defensivfußball des Vorgängers beendet. Mit seinem Offensivansatz feierte er rauschhafte Siege, wie beim 4:3 im Londoner Wembley-Stadion gegen den Europameister England. Unmittelbar vor der EM gab es einen 4:0-Sieg gegen die Niederlande. Auch jetzt, bei der EM, lief es mit zwei Siegen gegen Dänemark und Polen eher gut als schlecht.

Die Frage, ob der offensive Ansatz bei dieser EM der richtige ist, war angesichts der deutlichen Niederlage zwar naheliegend, sie ignorierte aber, dass Wücks bisherige Zeit ziemlich erfolgreich gewesen ist. Nicht trotz, sondern aufgrund seiner Spielidee.

Und Wück hat ja recht. Ihm stehen besonders viele starke Offensivspielerinnen zur Auswahl. Stürmerin Lea Schüller ist gesetzt; auf den Außenpositionen lassen Klara Bühl und Jule Brand keinen Platz für Bundesliga-Torschützenkönigin Selina Cerci. Im offensiven Mittelfeld konkurrieren Linda Dallmann, Laura Freigang und Sydney Lohmann um den einen verfügbaren Platz.

Aber in der Defensive ist Wücks Auswahl viel kleiner. Deshalb ist dieser Spielstil nachvollziehbar. Er ist zudem sehr viel unterhaltsamer als der Hrubesch-Fußball.

Zwei Problemfälle fallen besonders auf

Die Frage ist eher eine andere: Ob Wück das richtige Defensivpersonal ausgewählt hat, um genug Rückendeckung für den Angriff zu haben.

Der Bundestrainer baute zu Beginn des Jahres die international unerfahrene Rebecca Knaak in die Defensive ein und verzichtete im Vorfeld der EM auf Testspiele, um die Innenverteidigung noch einmal unter Härte zu testen. Er verzichtete im EM-Kader unter anderem auf Sara Doorsoun; die erfahrene Kathrin Hendrich setzte er auf die Bank.

Knaak hat das Vertrauen des Bundestrainers bisher nicht zurückgezahlt. Gleich bei mehreren schwedischen Gegentreffern offenbarte sie große Schwächen im Stellungsspiel, hinzu kommen ihre Tempoprobleme.

 Stand neben sich

Linder gegen Schweden: Stand neben sich

Foto: Philipp Kresnik / SheKicks / SPP / Sports Press Photo / IMAGO

Ein weiteres Problem ist Sarai Linder. Zwar hat sie ihre Stärken in der Offensivbewegung und passt damit zum Wückschen Fußball. Ihre langen Tempoläufe aus der Abwehr bis in den gegnerischen Strafraum sorgen für Wucht und Verwirrung beim Gegner. Doch ihre Mängel in der Defensive wurden gegen Schweden zu einem erheblichen Problem. Beim 1:2 ließ sich auf ihrer linken Abwehrseite einmal komplett überlaufen. In der Entstehung des Angriffs, der zur Roten Karte und letztlich dem 1:3 führte, unterlief ihr ein Stellungsfehler, wie man ihn bei Topspielerinnen nie sieht.

Man kann Wück vorwerfen, dass er für Linder praktisch keine echte Alternative im Kader hat. Er verzichtete bei der Nominierung auf Felicitas Rauch, die internationale Erfahrung mitgebracht hätte und in den USA unter Topbedingungen spielt. Stattdessen nahm er zur Überraschung vieler die 20-jährige Franziska Kett mit, die bisher nur drei Länderspiele absolviert hat und beim FC Bayern bloß eine Nebenrolle spielt.

Im Vorfeld der EM lobte Wück seinen Kader immer wieder. Dieser sei eine ideale Mischung aus erfahrenen und jungen Kräften, so der Bundestrainer. Inzwischen weiß man jedoch, dass er nicht perfekt ausbalanciert ist zwischen defensivstarken und offensiven Spielerinnen.

Hinzu kommt Ann-Katrin Berger, die plötzlich sehr unsicher auftritt, dribbelt und Fehlpässe spielt. Das hat den Bundestrainer zu öffentlicher Kritik an Berger hinreißen lassen. Das hat weder die Torhüterin noch den Trainer gestärkt.

Oberdorf hätte den Kader perfekt ergänzt

Das Defensivchaos ist also teilweise selbst verschuldet. Gleichzeitig ist bekannt, dass Wück bis zuletzt gehofft hatte, Lena Oberdorf mit zur EM nehmen zu dürfen. In ihr sah er die ideale Absicherung vor der Abwehr, um die Offensive sich austoben zu lassen. Doch der FC Bayern wollte die seit über einem Jahr am Kreuzband verletzte und noch nicht vollständig erholte Defensivspielerin nicht dem Risiko einer erneuten Verletzung bei der EM aussetzen. Wück entsprach dem Wunsch.

Dazu kommt, dass sich mit Giulia Gwinn ausgerechnet die einzige echte Konstante in der Viererkette im Auftaktspiel folgenschwer verletzt hatte. Ihr unerfahrener Backup Wamser schoss sich nun mit der Roten Karte selbst für das Viertelfinale ins Aus.

Die Probleme in der Defensive werden also noch größer, aber offenbar geht es bei dieser EM ohnehin nicht mehr darum, sie zu lösen.

»Wir müssen es hinkriegen, dass wir weiter unseren Fußball spielen«, sagte später Vize-Kapitänin Sjoeke Nüsken. Der Angriff ist unsere beste Verteidigung, das hätte sie auch sagen können.

Er ist auch die Einzige.

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