„Der Fall McNeal“: Wenn die KI alt aussieht

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Was bleibt? Was erweist sich als unersetzlich, wenn nach und nach alle geistigen Arbeitsschritte und literarischen Betriebsteile durch Dienstleistungen Künstlicher Intelligenz substituiert werden? Die Antwort von Ayad Akhtars Theaterstück „Der Fall McNeal“, das ein halbes Jahr nach der deutschsprachigen Erstaufführung der von Daniel Kehlmann übersetzten Fassung am Wiener Burgtheater (F.A.Z. vom 4. März) jetzt seine deutsche Erstaufführung im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses erlebte, lautet: die Zeitung. Und das könnte doch eine gute Nachricht sein für alle, die eine Zeitung lesen, oder jedenfalls für denjenigen, der in einer Zeitung schreibt.

Der Fall McNeal ist die Geschichte eines in die Jahre gekommenen Großschriftstellers, der sich daran gewöhnt hat, seinem Vorstellungsvermögen künstliche Stimulanzien zuzuführen. Seine Leber ist bereits ruiniert, und inzwischen lässt er seine Prosa dadurch die alten Tricks vollführen, dass er Gelenkstellen mit Geheimmitteln aus der elektronischen Dopingapotheke bearbeitet. Schamlos nutzt er Texterarbeitungsprogramme: Er füttert sie mit seinen Lieblingsstellen von Flaubert und gibt ihnen den Befehl, sie im Stil von Jacob McNeal wiederauszuspucken.

Nix über seinen Alkoholkonsum

Ayad Akh­tar, der von New York nach Düsseldorf gekommen ist und vor der Premiere ein Publikumsgespräch absolviert, erzählt, dass er bei der Herstellung seines Stücks versuchsweise ebenso vorgegangen sei wie sein Protagonist. Über seinen Alkoholkonsum verrät er nichts, aber er sieht durchaus gesund aus. Ohne Zeitung keine Kritik, also kein Urteil, kein Maßstab, kein Vergleich, kein Ruhm. Hier aber auch keine Welt. Im Stück versorgt die Zeitung den Autor auch mit Stoff. Die Geliebte, die McNeal im Haus der Updikes kennenlernte, weshalb seine vernachlässigte Ehefrau sich umbrachte, was einen Haufen Seelenmüll auf McNeals Schreibtisch hinterließ, eingeschlossen ein unpubliziertes Romanmanuskript der Ehefrau, das der Witwer Jahrzehnte später fachgerecht ausschlachten konnte – diese Geliebte und Lebensabschnittsunglücksmuse war Literaturredakteurin der „New York Times“.

 Friederike Wagner, Pauline Kästner und Fnot TaddeseDrei Schwestern ohne Aussichten: Friederike Wagner, Pauline Kästner und Fnot TaddeseThomas Rabsch

Der Fall McNeal wird in einer Folge von Verhörsituationen durchgespielt, Konfrontationen des Helden mit den Frauen in seinem Leben sowie mit dem Sohn, der dabei mehr oder weniger unvermeidlich entstanden ist, Kollateralschaden eines erotisch konzipierten Schöpfertums und wandelnde Kränkung des überdimensionierten Männlichkeitsideals des Musterautors mit irischem Nach- und jüdischem Vornamen. In der letzten Runde des Reigens erscheint als Ex-Geliebte und mittlerweile auch Ex-Redakteurin, die auf ihrer Lieblingsbank im Central Park ei­gentlich nicht auf den Spitzentitelfavoriten lang vergangener Buchmessen gewartet hat, Claudia Hübbecker, im Düsseldorfer Ensemble die Spezialistin für Frauenfiguren, die es mit Amüsement betrachten, dass ihnen in der patriarchalischen Gesellschaft eine tragische Statur gedacht ist.

Hitlerpose während Rede

Präzise Arbeit verrichten auch die weiteren unentbehrlichen Gedankenleserinnen im System der paraliterarischen Zuarbeitsteilung: Agentin (Friederike Wag­ner), Assistentin (Flavia Berner), Jour­nalistin mit großem Porträtauftrag (Fnot Taddese) und Hausärztin (Pauline Kästner). Und Thiemo Schwarz übertreibt den Part des zotteligen Berserkers glücklicherweise nicht, noch nicht einmal die Imitation der Hitlerpose während der Nobelpreisrede, so dass man seinem McNeal abnimmt, dass er in seiner Vorstellung ein Dichter ist, obwohl er nur ein einziges Gedicht verfasst hat.

 Moritz Klaus, Friederike Wagner, Pauline Kästner, Flavia Berner, Fnot TaddeseAuf die Plätze, fertig, los: Moritz Klaus, Friederike Wagner, Pauline Kästner, Flavia Berner, Fnot TaddeseThomas Rabsch

Man fragt sich aber: Wird die Identifikation von Kreativität und Potenz nach uraltmodisch binärem Geschlechterschema hier parodiert oder zelebriert? Und man gerät darüber ins Grübeln, dass eine KI womöglich keinen Sinn für diese Unterscheidung hat, weil sie nur schriftsprachliches Material verarbeitet, keine Tonfälle oder andere Anzeichen von Intentionalität kennt. Der Regisseur Philipp Rosendahl hat mitgeteilt, dass auch bei der szenischen Einrichtung der Einsatz von KI ausprobiert wurde. Die Handschrift der Regie ist ein dezent choreographiertes Maschinenmenschentum vor einem Lichtregenvorhang, der die Handlung im digitalen Weltalter ansiedelt. Wir haben ein Problemstück vor uns, maßgefertigt für kultur­kritische Debatten in der Op-Ed-Rubrik. Aber was an dem, was wir sehen, ist Experiment? Das „well-made play“ ist viel zu gut gemacht: Die dramatischen Wendungen sind zu vorhersehbar. Spielt Akhtar uns vor, dass auch er sich nicht anders zu helfen wusste als McNeal, weil die Schaffenskrise der Standardmodus der Autorenexistenz im neuen Maschinenzeitalter ist?

Auf den Nobelpreis, dessen unverdiente Zuerkennung McNeals Triumph über seine Schreibtrainerin ChatGPT ist, die über seine Chancen nicht spekulieren konnte und wollte, folgt in der Rangordnung der im Stück reproduzierten Welt noch eine allerletzte höhere Ehre: die Titelgeschichte im „New York Times Magazine“. Der unfreie Lauf der Phantasie von Jacob McNeal dreht sich um die eine Zeitung, die für Autoren schon deshalb unersetzlich ist, weil sie Woche für Woche die Bestsellerlisten abdruckt.

In den zwölf Monaten zwischen der Broadway-Uraufführung und der deutschen Erstaufführung von „McNeal“ (so der Originaltitel) hat die „New York Times“ einen drastischen Schnitt bei der klassischen Kritik vollzogen, zugunsten von Porträt- und Videoformaten. Ist das Stück prophetisch, weil es Claudia Hübbeckers Kritikerin in den Vorruhestand schickt, oder mit seiner Gleichsetzung von Weltliteratur und New Yorker Verlagswelt hoffnungslos anachronistisch? Schluss der Kritik, Beginn der Debatte: Nichts Neues – typisch KI?

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