Der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehene Georg-Büchner-Preis ist immer noch die angesehendste Literaturauszeichnung im Land – ungeachtet dessen, dass mittlerweile zwei weitere dasselbe hohe Preisgeld von 50.000 Euro bieten (der Breitbach-Preis und der Große Preis des Deutschen Literaturfonds) und der Deutsche Buchpreis mit seinen Long- und Shortlist-Spektakeln weitaus mehr öffentliche Aufmerksamkeit findet und damit auch weitaus mehr Wirkung im Buchhandel entfaltet. Doch anders als die Konkurrenz folgt der Büchnerpreis nicht Moden, sondern prämiert literarische Leistungen, die jeweils Anspruch auf Zeitlosigkeit erheben (sollten), stets auch mit Blick auf ein Gesamtwerk. Das Ergebnis überzeugt nicht immer, aber erstaunlich oft. Und überrascht regelmäßig.
Bei den letzten fünf Preisträgern war das im Falle Elke Erbs die Tatsache, dass sie die Auszeichnung endlich doch noch bekam, bei Clemens Setz, dass er sie so früh bekam, bei Emine Sevgi Özdamar, dass sie tatsächlich (2022!) die erste Preisträgerin war, die für migrantische deutsche Literatur steht, bei Lutz Seiler, dass ein beim breiten Publikum derart erfolgreicher Autor den Büchnerpreis bekam, und bei Oswald Egger, dass ein beim breiten Publikum derart missachteter Autor ihn erhielt. Wer würde in diesem Jahr diese unberechenbare Reihe fortsetzen?
Das hat die Akademie eben bekannt gegeben: Ursula Krechel. Und nun könnte man einfach sagen, dass im Falle einer siebenundsiebzigjährigen Berliner Schriftstellerin wieder alles so ist wie vor fünf Jahren bei Elke Erb – längst überfällige Auszeichnung! Doch Erb war immerhin damals schon zweiundachtzig (wie 2014 auch Jürgen Becker; beide zusammen stellen die ältesten in Darmstadt Ausgezeichneten). Bei Ursula Krechel überrascht etwas anderes: dass sie den wichtigsten deutschen Literaturpreis just in dem Jahr bekommt, in dem sie sich noch einmal neu erfunden hat.
Der Neuanfang mit Mitte siebzig
Zur Erinnerung: Im Januar erschien Krechels jüngster Roman, „Sehr geehrte Frau Ministerin“, und er wurde bei der Kritik zwiespältig aufgenommen. Das lag auch daran, dass man von Krechel durch ihre von 2008 bis 2018 erschienene Romantrilogie „Shanghai fern von wo“, „Landgericht“ und „Geisterbahn“ zwar politische Bücher gewohnt war, aber es waren erinnerungspolitische – der innere Zusammenhang der Trilogie liegt in der Beschäftigung mit Opfern des „Dritten Reichs“ und der ihnen erschwerten, wenn nicht verweigerten Wiedergutmachung in der Bundesrepublik. „Sehr geehrte Frau Ministerin“ dagegen ist tagesaktuell; auch wenn wieder juristische Fragen ein zentrales Element sind (bis hin zu einem Attentat), bietet der Roman doch vor allem ein feministisch konnotiertes Gesellschaftsporträt, das vor allem die Frage von Mutterschaft mit all ihren Herausforderungen in den Mittelpunkt stellt. Ein Neubeginn mit Mitte siebzig.
Und nicht nur, dass Ursula Krechel dafür auch einen neuen Verlag wählte (Klett-Cotta statt des mittlerweile von Kampa übernommenen Autorenverlags Jung und Jung, bei dem sich Krechel nach dem Eigentümerwechsel nicht mehr gut aufgehoben fand), sie wählte auch ein Montageprinzip von Realien im Roman, das bisweilen den Eindruck einer Chronik der laufenden Ereignisse erzeugt: Ladenkettenabwicklungen, Missbrauchsskandale in Bistümern, Bauernproteste, Streit in Regierungskoalitionen. Dazu ein Erzählstil, der je nach Perspektive wechselt, und eine Erzählung selbst, die bis in die römische Antike zurückgeht, aus der Neros Mutter Agrippina zur historischen Folie aufsteigt, vor der drei deutsche Frauen agieren: eine Verkäuferin, eine Lehrerin und die titelgebende Ministerin. Literarisch hochkomplex.
Aber zeitlos? Ja, durch die Einbettung in ein Werk, das bei Krechel in den Siebzigerjahren mit Lyrik beginnt und erst noch Theaterstücke und zahlreiche Hörspiele hervorgebracht hat, ehe 1981 der erste Roman herauskam: „Zweite Natur“, zeitgemäß experimentell untertitelt als „Szenen eines Romans“, was bei Krechel nicht zu viel versprochen war, weil sie vor der Schriftstellerei mehrere Jahre als Dramaturgin am Theater Dortmund arbeitete und die Verbindung von Bühne und Buch für ihr Schaffen wichtig ist.
Krechel beherrscht die unterschiedlichsten Formen
Mit ihr ist denn auch nach vielen Jahren wieder einmal eine ausgewiesene Theater- und Hörspielautorin mit dem Büchnerpreis bedacht worden. Solche Multimedialität ist selten geworden; nur die wenigsten jüngeren Kollegen entwickeln in den heute üblichen Netzaktivitäten (Krechel hat für dergleichen wenig übrig) eine ähnliche Formenvielfalt – Büchnerpreisträgerausnahmen wie Setz oder Marcel Beyer bestätigen die Regel. Sie ist zudem nach Seiler und Terézia Mora erst die dritte Person, die als Gewinnerin des Deutschen Buchpreises (2012 wurde Krechel für „Landgericht“ ausgezeichnet) auch den Büchnerpreis erhält.
Vor der Publikation von „Sehr geehrte Frau Ministerin“ schien Ursula Krechel ihre literarischen Angelegenheiten geordnet zu haben: Ende vergangenen Jahres gab sie ihren literarischen Vorlass ans Archiv der ihr eng verbundenen Berliner Akademie der Künste. Dass sie aus der krönenden Ehrung ihres Lebenswerks nun den Antrieb für Weiteres ziehen wird, ist bei dieser energetischen Autorin sicher. Und wer ihre Essays kennt, die 2022 noch bei Jung und Jung gesammelt erschienen sind, der weiß, dass man sich freuen kann auf die Preisverleihung im Staatstheater Darmstadt am 1. November. Krechel und Büchner – das ist eine zwingende literarische Kombination. Form- und Themenbewusstsein zeichnen beider Texte aus. In welchem Genre auch immer.