Die Aufregung um The Velvet Sundown ist begreiflich, aber auch so künstlich wie die Band, die dahintersteckt beziehungsweise ja eben gerade nicht dahintersteckt. Ob es eine Person ist oder mehrere, war bisher nicht herauszufinden. Was man weiß, ist, dass es sich bei dem Quartett selbst wie bei ihrer Musik um das Produkt Künstlicher Intelligenz (KI) handelt, es beides also nicht wirklich „gibt“. Das hat den Vorteil, dass man sich die Namen der Mitglieder nicht merken muss, ja, sie noch nicht einmal vergessen kann.
Vergessen kann oder muss man allerdings auch die Musik nicht, bei der jeder, der mit dem Frühsiebziger-Rock etwas anfangen kann, aber auch zeitgenössische Imitate davon nicht verschmäht, auf seine Kosten kommt und die, wie nach Caesar Gallien, aus drei Teilen besteht, wenn man den Begriff „Alben“ nicht verwenden mag, obwohl es sich, mit dem üblichen Dutzend Songs, rein formal um welche handelt.
Keine Spitzfindigkeiten
Es war dabei ausgesprochen pfiffig, dem Gesamtprodukt diese irreführend altmodische Anmutung zu geben: die „Musiker“ hippiemäßig, die „Musik“ ohne technische Spitzfindigkeiten, ja, überhaupt Hilfsmittel wie Drumcomputer oder dergleichen; alles wirkt irgendwie independent, wobei die Abgrenzung zum Mainstream hier rein vertriebstechnisch gar nicht ins Gewicht fällt – es gibt kein Label, noch nicht einmal ein band-eigenes –, stilistisch hat sie ohnehin an Relevanz verloren. (Bei der weiteren Betrachtung müsste man das popkritische Begriffsbesteck genau genommen in Anführungszeichen setzen, aber das wäre zu umständlich; der Leser mag sie sich dazudenken.)
Verdacht weckte die Gruppe schon damit, dass binnen fünf Wochen drei Alben erscheinen sollten (Hörproben hier). Hinzu kommen, mit schon kapriziösem werkgeschichtlichen Anspruch, am heutigen Freitag „The Velvet Sundown Variations“. Dieses ist eindeutig das avancierteste Album, befreit vom Slow- oder Midtempo-Korsett mit Westcoast- ode Hardrock-Anmutung, eine wirklich bunte Mischung aus Achtziger-Rap, Dance, Balladen und Gassenhauer-Rhythmen, bei denen, unter Kappung der vormals gewinnenden Melodiösität, Scratching, eine Bluesmundharmonika und ein Hillbilly-Banjo zum Einsatz kommen. Kaum legt die Band also los, wagt sie sich schon an Enzyklopädik wie die Beatles erst mit ihrem Weißen Album.
Was ist nicht künstlich?
Bei alledem handelt es sich, das ist ja der Witz, um ein KI-Produkt, also um künstliche Musik. Aber Musik ist es eben doch. Die Frage wäre, ob der Rock- und Popmusik nicht schon seit ihrer Elektrifizierung etwas Künstliches anhaftet – das haben vielleicht die Dylan-Fans gespürt, als der Meister 1965 in Newport seine Gitarre unter Strom setzte. Das wurde damals als unerlaubter Quantensprung empfunden, im Vergleich zu dem der Gebrauch von KI womöglich gar keinen größeren darstellt. Ohnehin haben die traditionell quantifizierenden Maßstäbe für Popmusik in den vergangenen 25 Jahren eine Verlagerung ins Virtuelle erfahren, wie die Stereotypen „wurde so und so viele Millionen Mal auf Spotify abgerufen“ zeigen. In diese Dimension sind nun auch, in erstaunlich kurzer Zeit, The Velvet Sundown vorgestoßen.
Wie sie das genau gemacht haben, weiß nur ihr Urheber. Fest steht, dass die Referenzen, die für sie bemüht werden – der Folk- und Softrock seit ungefähr 1970, die kursierende Namensliste ließe sich fast beliebig erweitern –, das Muster abgeben, mit dem die entsprechenden Programme gefüttert wurden. Wer den Sachverhalt kennt, wird beim Hören bald merken, dass dieses Verfahren (bisher) nur abschnitts- oder portionsweise funktioniert, so wie die Werke Gustav von Aschenbachs – nicht aus einem Guss, sondern „emporgeschichtet aus aberhundert Einzelinspirationen“, keine Größe mehr signalisierend, sondern (nur) „die Wirkung von Größe“.
Menschliches, Menschenmögliches
So ähnlich ist es auch bei The Velvet Sundown, die letztlich doch etwas aseptisch klingen und bei denen die Übergänge zwischen leisen oder rein akustischen Passagen hin zu voluminöseren oder härteren etwas abrupt, weniger organisch wirken. Menschliches steckt gleichwohl drin, wie die anhängigen Urheber-Klagen zeigen, die ohne den Glauben an Menschengemachtes- und -mögliches ja gar keinen Sinn hätten.
Auf ihre Weise rühren The Velvet Sundown an zwei Ur-Ideen der Popmusik, die mit Imagination und Propaganda zu tun haben: Die interessantesten Alben sind manchmal die, die nie eingespielt wurden. Und eine Band hat es geschafft, wenn sie in der Zeitung steht.