
Rock-Kollektiv Caroline
Foto:Henry Redcliffe
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Wenn irgendwann einmal auf den Pop dieser unruhigen Jahre zurückgeblickt wird, könnten diese Band und dieses Album eine Rolle spielen. Denn mehr als jede andere Rockband zurzeit versucht das britische Oktett Caroline, die Kakofonie der Gegenwart in einen harmonischen Zusammenhang zu zwingen. Nicht immer mit Erfolg: Die Erlösung, die Epiphanie von Gemeinsamkeit, verbirgt sich oft eher in den Scharnieren innerhalb dieser Musik, es ist die Schönheit des Schraubens am Wohlklang, die »Caroline 2« zu einem der definierenden Alben von 2025 macht.
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Natürlich gelingt das nicht ohne Herausforderung des Hörenden: »Total Euphoria« heißt der erste von acht Tracks, aber erst einmal herrscht statt Euphorie eher Irritation. Die Gitarre scheppert, dann folgen Drums, die einem komplett anderen Takt zu folgen scheinen, noch mehr Instrumente gesellen sich dazu, nichts passt zueinander, alles quäkt, sägt und blökt gegeneinander, ungefähr so, als würde man fünf TikTok-Videos gleichzeitig abspielen. Erst ein bedächtiger, hoher Gesang bindet alles in eine süße Melodie: »If you let them, I’ll let them in«, singt Carolines Mitgründer und Hauptvokalist Jasper Llewellyn: Wenn du sie lässt, lass auch ich sie rein – eine nicht nur musikalische Dialogbereitschaft. Das ganze Album strebt danach, inmitten gegensätzlicher, widerstrebender, dissonanter und um Aufmerksamkeit wettstreitender Klänge zu Verständigung zu gelangen. Ungefähr so, wie wir alle gerade inmitten politischer und gesellschaftlicher Untiefen nach einer gemeinsamen Basis suchen, common ground.
In der Pop- und Rockmusik ist die Entsprechung dafür natürlich die Melodie, ein griffiger Refrain, eine sentimentale Harmonie. Während sich Caroline, aus London stammend und dem Postrockgenre zugeordnet, auf ihrem gefeierten Debüt von 2022 dem Pop-Appeal (sowie Gesängen) noch weitgehend puristisch verweigerten, sind sie nun selbstsicher genug, um Schelmereien und Spielerisches zu riskieren. So etwa in »Song 2«, neckisch nach einer der wohl griffigsten Britpop-Hymnen betitelt. Aber natürlich läuft hier nichts geradeaus, sondern alles in einem gleißenden, mäandernden Mahlstrom zusammen, der klingt, als hätte sich Nick Caves Violine spielender Musikdirektor-Derwisch Warren Ellis mit den elektronischen Tanzbären von Hot Chip zusammengetan, um dann gemeinsam Bon Iver in der Blockhütte des Future Folk zu besuchen. Einfacher gesagt: Auf experimentelle Weise könnte hier ein Mittelweg zwischen den beiden großen Caroline-Polen der Popgeschichte gefunden werden, der Stadionhymne »Sweet Caroline« und dem kunst- wie feinsinnig gesponnenen »Caroline, No« von Brian Wilson.
Mit »Tell Me I Never Knew That« erweckt die Band zusammen mit wiederum einer anderen Caroline, Indie-Glamour-Queen Caroline Polachek, kurz den Eindruck, sie könnte einen veritablen Pophit schreiben. Aber schon wird wieder ausgefranst und improvisiert, getrötet, gezischelt und geschrammelt, bis jeder Anflug von Griffigkeit sich wieder verflüchtigt hat. Am Ende dieses grandios verdüdelten Songs ist es nicht der wahrscheinlich erschöpfte Gaststar, sondern die bandeigene Sängerin Magdalena McLean, die beherzt noch einmal Haim-artig Pop-Haken und -Ösen ins freie Flottieren einschlägt. Die können das schon, die wollen nur nicht.
So ähnlich ist es auch beim zweiten Pop-Teaser des Albums, dem »Coldplay Cover«, der die ganze Zeit so tut, als würde sich die elegisch aufgebaute Spannung des Tracks jeden Moment in einem kathartischen Chris-Martin-Refrain entladen. Stattdessen implodiert der Song, der kein Cover ist, sondern ein Caroline-Original, an der klimaktischen Stelle in ein gänzlich neues Lied, das nie über seinen zart gezupften Anfang hinwegkommt. Im Hintergrund drängeln die Chöre der vermeintlichen Coldplay-Refrainrampe immer noch auf Durchlass, aber die Oberhand behält am Ende die echte, auf wenige Klänge und Nuancen reduzierte Besinnlichkeit, nicht das große manipulative Emo-Spektakel.
»Caroline 2« klingt streckenweise so mutig, abgeklärt und erwachsen, wie man sich das neue Album von Arcade Fire gewünscht hätte, aber es sind nun die Briten, die in dieser hippiesk-kollektivistischen Postrockmusik der Nullerjahre den nötigen Evolutionsschritt wagen.
Die frühe Caroline-Single »Good Morning (Red)« erzählte 2017 noch vom politischen Erwachen und der Klinkenputzerarbeit des Bandmitgründers und Gitarristen Casper Hughes für die Labour Party. Heute ist Politik kein bestimmendes Thema in den Texten, dafür aber im streng achtsamen und basisdemokratischen Kuschelgruppen-Sozialismus der Band, wo jeder selbstvergessen vor sich hin posaunen, fiedeln oder klampfen kann, solange sich alle noch auf einen Flow der allgemeinen Stressbewältigung einigen können. Und sei es nur die selige Versunkenheit in die simplen Freuden gemeinsamer Klangerzeugung. Caroline, Yes! (9.0/10)
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Kurz abgehört:
Maxine Troglauer – »Hymn«
Es wurde wirklich Zeit, dass sich Maxine Troglauer aus den Fängen des Klassik-Feuilletons und väterlich beengenden Schlagzeilen wie »Junge Bassposaunistin mit Schwung« (BR Klassik) oder »Power an der Bassposaune« (NDR) befreit. Das Debütalbum der aus Wiesbaden stammenden Wahlberlinerin erscheint beim Psychedelik-Label Fun in the Church, das zum Experimental- und Avantpop-Hort Staatsakt gehört.
Deklariert wird die eigentlich unfassbare Musik auf »Hymns« bei Streamingdiensten nun als »Jazz« und wirkt dadurch gleich viel cooler. Tatsächlich transzendiert die Musik der 30-Jährigen, live aufgenommen für den Deutschlandfunk im Kölner Kammermusiksaal, alle Zuschreibungen, Genres und Epochen. Barock, Klassik und Jazzmoderne verschränken sich mit suggestiven Filmsoundtracks und Miles Davis (in »The Chant« mit Trompeter Peter Evans). Verbindendes Element auf diesem Trip bleibt natürlich Troglauer mit ihrer, so war es vielfach zu lesen, unverfroren der Männerdominanz entrissenen Bassposaune. Selbst das Instrument scheint sich über die allgemeine Entgrenzung dieses klanglichen Diskursraums zu freuen, so smooth klingt sein Tuten und Bratzen. (7.7/10)
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Léonie Pernet – »Poèmes Pulvérisés«
Auch die französische Musikerin Léonie Pernet bemüht sich um die Pulverisierung von Genres, vor allem aber will sie kulturelle Räume transzendieren: Schon auf ihrem zweiten Album »Le Cirque de Consolation« verschmolz sie europäische Elektronik- und Technosounds mit afrikanischen Rhythmen. Nun reiste sie in ihr Herkunftsland Niger und besuchte dort Verwandte, die sie noch nie zuvor getroffen hatte. Die Inspiration zu ihren »pulverisierten Poemen« lieferte ihr jedoch der französische Widerstandsdichter René Char, in dessen Werk sie den Satz »Ich habe meinen Kopf gepackt, wie man einen Salzklumpen packt, und ihn buchstäblich pulverisiert« fand.
Zertrümmert wird in Pernets Musik nichts, trotzdem entfalten sich gewaltige emotionale Kräfte, wenn die Schauspielerin Louise Chevillotte in »Brûler pour briller« (»Verbrennen, um zu leuchten«) ein Char-Gedicht über fatalistisch-apokalyptischem Streicherbombast rezitiert. Nur die interkulturelle Verständigung kann die Welt retten, suggeriert Pernet im dramatischen Elektro-Kammerpop von »Réparer le monde« (»Die Welt reparieren«). Und wie erlangt man die? Am besten übers Tanzen, daher sind von French Pop und Afrobeat gleichermaßen beeinflusste Banger wie »Paris-Brazzaville«, »Acid Niger« oder »Touareg« die pochenden Herzen dieses zwischen tiefgründiger Elegie und leichtherziger Eleganz fein ausbalancierten Albums. In Frankreich zählt Léonie Pernet zu den Schlüsselfiguren der jüngeren Popszene; jetzt weiß man auch, warum. (7.5/10)
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Front – »Album«
»Sie waren so modern wie Palais Schaumburg oder DAF. Und dabei doch völlig eigen«, sagte NDW-Veteran Andreas Dorau (»Fred vom Jupiter«) kürzlich in einem Interview über das nun nach über 40 Jahren endlich veröffentlichte einzige Album der Hamburger Band Front. Lange dachte man, ein tanzbarer Sound mit Dub-, Funk- und Disco-Elementen, wie ihn Gang of Four oder A Certain Ratio zu jener Zeit in England spielten, sei in Deutschland nicht machbar gewesen: Es gab 1981 zwar den harten, minimalistischen Proto-Techno von DAF, Surrealismen wie von Palais, Fehlfarben, Ideal oder den Dada-Punk von Trio, aber nicht diesen düster funkelnden, pumpenden Postpunk.
Front, die damals aus der Punkgruppe Coroners um Sänger Joern Zimmermann und Gitarrist Godehard ›Gode‹ Buschkühl hervorgingen, hätten diese Lücke kompetent gefüllt, das kann man jetzt hören. Eine Single, eine EP und ein Beitrag auf einem Sampler des einflussreichen Zickzack-Labels von Hamburger-Schule-Pate Alfred Hilsberg wurden veröffentlicht, danach löste sich die Band scheinbar in Luft auf. Dorau, der das »Album« mit verbliebenen Front-Mitgliedern und KI-Hilfe aus dem Tonbänder-Archiv hievte, bezeichnet sich heute selbst als mitverantwortlich für das frühe Aus, da er den Bassisten Jürgen Keller, der zu jener Zeit auch für Palais Schaumburg spielte, zusätzlich für seine eigene Liveband engagierte. Irgendwie verdaddelten sich dann alle, wie man in Hamburg sagt. Dabei waren Front tatsächlich schon damals so modern, dass man ihre Songs heute nahtlos an aktuelle Postpunk-Dystopien von Bands wie Gewalt fügen könnte: »Journalisten kommen ins Schwitzen/ Direktoren sind verloren/ Kommt alles wieder?«, singt Zimmermann in einem seiner Songs. Könnte auch eine zeitgeistige Songzeile aus 2025 sein. (8.0/10)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)