Sie haben sich in einem Brief, einem „verzweifelten Hilfeschrei“, an Ihre Parteivorsitzenden gewandt. Warum?
KALBE: Genau genommen haben wir zwei Briefe verfasst. Einen an den Grünen-Bundesvorstand und einen an den Thüringer Innenminister Georg Maier. Die Gewalttaten in Thüringen nehmen seit Jahren nachweislich zu, vor allem gegen kommunalpolitisch aktive Menschen. Die Debatten verrohen immer mehr. Als Grüne werden wir an Infoständen beleidigt und bespuckt. Wir wissen einfach nicht mehr weiter.
Ihr Einsatz für die Grünen vor Ort sei „gefährlich geworden“. Was erleben Sie konkret?
KALBE: Bei einem Parteimitglied von uns ist am helllichten Tag eingebrochen worden. Dabei wurden Mülltonnen angezündet. Der Brand ist auch auf die Fassade übergesprungen. Zum Glück war die Feuerwehr rechtzeitig da. Vor ungefähr zwei Wochen wurde ein anderes Mitglied, ein langjähriger Stadtrat und Kreistagsabgeordneter, auf offener Straße angegriffen. Da flogen Sätze wie: „Du grüne Sau!“. Dazu hat er Schläge auf den Brustkorb einstecken müssen.
KAISER: Es ist mittlerweile völlig normalisiert, uns zu beleidigen, beschimpfen oder körperlich anzugreifen. Das reicht von der Sachbeschädigung von Plakaten und Büros bis eben zu solchen körperlichen Attacken mit Schlägen und Tritten sowie geworfenen Flaschen. Wir gelten ein Stück weit als vogelfrei – und das als Ehrenamtliche.
Kurz vor der Bundestagswahl im Februar gab es einen Anschlag auf Ihr Kreisverbandsbüro. Was ist da passiert?
KALBE: Im Wahlkampf konnten wir ein paar Stunden die Woche jemanden zur Unterstützung einstellen. Diese Person hat um 13 Uhr das Büro verlassen, da war alles ganz normal. Eine Stunde später ist zufällig ein Bekannter vorbeigelaufen und hat mich über einen Anschlag informiert. In eine Fensterscheibe wurde groß eingeritzt: „Volksverräter tötet euch.“ Eine andere Scheibe wurde komplett zerstört.

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Konnte der Täter ermittelt werden?
KALBE: Wir haben den Fall der Polizei gemeldet. Nach meinem Kenntnisstand hat die bisher aber relativ wenig unternommen. Es gibt im Nachbarhaus ein Café mit viel Betrieb, ein Mehrgenerationenhaus mit Eltern-Kind-Café. Gegenüber außerdem eine Bushaltestelle – von der ein Bus im 20-Minuten-Takt abfährt: Soweit ich weiß, gab es dort überall bis heute keine Befragungen. Der oder die Täter konnten bis heute nicht ermittelt werden. Dazu dauert es jetzt schon Monate, um die Glasfenster zu erneuern.
Warum?
KAISER: Grundsätzlich ist es hier schwer, überhaupt einen Glaser zu finden. Es gibt kaum noch Handwerker in unserer Region. Lange wollte uns niemand ein Angebot machen.
Weil Sie bei den Grünen sind?
KAISER: Ich will nicht mutmaßen. Da kamen unterschiedliche Dinge zusammen. Es gab allerdings Fälle, in denen ich mitgeteilt habe, um welchen Auftrag es sich handelt, also eine Reparatur im Grünen-Kreisverbandsbüro. Danach hatte man mir gesagt, es passe gerade nicht oder ich solle eine E-Mail schreiben. Auf die habe ich dann aber keine Antwort mehr bekommen. Jetzt haben wir allerdings einen Betrieb gefunden.
Sie schreiben außerdem von „abgrundtiefem Hass und Angst“. Auch gegen Sie persönlich?
KALBE: In den Kommentarspalten auf Social Media massiv. Aber auch an Infoständen spüre ich den regelmäßig. Als wir letztes Jahr plakatiert haben, war es normal, dass die Fensterscheibe eines vorbeifahrenden Autos herunterging und Sätze fielen wie: „Die Plakate nehmen wir ab, euch hängen wir auf.“ Es kleben hier regelmäßig Hassbotschaften an meinen Bürofenstern. Gerade eben erst hat mir draußen ein Vorbeilaufender zugerufen, die Grünen brauche man nicht und ich solle mich irgendwo hin verziehen. Es ist alltäglich. Viele von uns hören so etwas immer und immer wieder.
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Wie reagieren Sie denn auf solche Vorfälle an Infoständen? Sprechen Sie die Leute an oder ignorieren Sie das?
KALBE: Das ist situationsabhängig. Ich stelle mich jeder Diskussion. Aber sobald ich merke, dass die Person kein Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung hat, dann beende ich es möglichst schnell. Spucken oder Beleidigung passieren häufig einfach so im Vorbeigehen. Da kann man so schnell gar nicht reagieren.
KAISER: Ich saß kürzlich als Patient beim Zahnarzt. Die Angestellte, die die Zahnreinigung durchführt, kenne ich eigentlich seit Jahren. Irgendwann fragte sie mich, ob ich noch politisch aktiv sei. Danach eskalierte es völlig. Es folgten übelste Beschimpfungen gegen Politiker und das System, darunter „Volksverräter“ oder, dass wir „dem Volk schaden würden“. Vor Jahren wäre so etwas unvorstellbar gewesen.
Was macht so etwas mit Ihnen und ihrer Familie?
KAISER: Ich bin groß und kräftig. Aufgrund meiner Erscheinung musste ich vor größeren Vorfällen bisher keine Angst haben. Allerdings habe ich eine kleine Tochter. Gerade wenn ich mit ihr zusammen unterwegs bin, überlege ich, wie und wo ich mich im öffentlichen Raum bewege. Ich habe mir einen Schulterblick angewöhnt. Die Vorstellung, mit ihr in einen Konflikt verwickelt zu werden, macht mir Sorgen. Selbst, wenn es nur verbale Anfeindungen sind. Wir haben beim Mord an Walter Lübcke gesehen, wohin das im äußersten führen kann.
KALBE: Auf Veranstaltungen versuche ich immer eine Begleitung mitzunehmen. Spätabends bin ich nur ungern allein unterwegs. Meine Routine auf dem Heimweg hat sich verändert. Ich fahre jeden Abend am Grünen-Kreisbüro vorbei, um zu prüfen: Gibt es neue Aufkleber und Hassbotschaften, ist irgendwas zerstört? Das ist völlig normal geworden. Ich bin aufmerksamer geworden.
Hat es auch politische Folgen?
KAISER: Wir haben eine diffuse Angst, die sich immer weiter in das eigene Tun hineinfrisst. Es kommen zum Beispiel Eltern zu mir als Parteivorsitzendem, die mich explizit darum bitten, über das normale Maß hinaus auf ihre Kinder und Jugendlichen zu achten, die bei uns aktiv sind. Manchen wurde ein Engagement bei den Grünen schlicht aufgrund des Gefahrenpotenzials verboten.
Und darüber hinaus?
KAISER: Es führt dazu, dass sich Mitglieder zurückziehen. Oder, dass sie nicht mehr auf Flyern abgebildet werden wollen. Gerade vor der Kommunalwahl hatten wir eine Reihe von Absagen. Leute unterstützen uns und spenden auch vielleicht ein bisschen etwas. Aber sichtbar wollten sie nicht mehr sein. Wir erleben, dass sich viele Menschen mit guten Ideen zurückziehen.
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Werden nur die Grünen Opfer von Gewalt oder auch Mitglieder anderer Parteien?
KAISER: Wir sind besonders im Fokus, aber das betrifft durchaus auch Mitglieder der SPD und der Linken. Teilweise sogar auch der CDU, gerade zu Zeiten Angela Merkels Kanzlerschaft.
KALBE: Einer der bekanntesten Angriffe bei uns im Landkreis richtete sich vor eineinhalb Jahren gegen einen Sozialdemokraten. Bei ihm wurde das Haus angezündet. Mittlerweile ist er nach Bayern umgezogen.
Die Grünen haben den Einzug ins Landesparlament im September verpasst. Herr Kalbe, Sie sind der einzige Politiker ihrer Partei im Stadtrat. Haben Sie den Osten aufgegeben oder hat der Osten Sie aufgegeben?
KALBE: Ich hoffe, dass niemand den Osten aufgegeben hat. Wir haben es auf jeden Fall nicht, das zeigt unser Brief. Meine Hoffnung ist, dass wir einander nicht aufgeben.
Aber warum wählen Sie so wenige Menschen in Thüringen, aber auch generell im Osten?
KALBE: Uns wählen ungefähr so viele wie früher. Das Problem ist, dass die populistischen Parteien sehr viel mehr Menschen mobilisieren. Sie präsentieren vermeintlich einfache Lösungen auf komplexe Fragen, ob im sozialen Bereich oder dem Klimaschutz. Das sehen wir in Thüringen mit den Wahlergebnissen vom BSW und der AfD am deutlichsten. Dazu wettert der Oberbürgermeister der SPD massiv gegen alles, was auf die Zukunft ausgerichtet, ob gegen Windräder oder Solarplatten an Häusern.
Haben die Grünen ein Sender- oder ein Empfängerproblem?
KAISER: Die großen Parteilinien werden auf Bundesebene gezogen, nicht in Gotha oder Thüringen. Und wir tun uns tatsächlich schwer, einzelne Themen so zu übersetzen, dass sie die Menschen hier verstehen.
Welche sind das?
KAISER: Als erstes fällt mir der Bereich Identitätspolitik ein. Ich halte das Thema nicht für unwichtig, aber wir überziehen an manchen Stellen oder haben einen zu starken Fokus darauf. In unserer Wirtschaftspolitik dürfen wir das Thema Wertschöpfung nicht außer Acht lassen. Ich will hier kein Industrie-Museum, bei dem wir uns für die Klimaneutralität auf die Schulter klopfen, aber nichts mehr produzieren. Letztes Beispiel: das Deutschlandticket. Das ist ein großartiges Angebot in Städten. Aber wenn der Bus nur zweimal am Tag fährt, dann löst es eher eine Abwehrreaktion aus, wenn damit groß geworben wird.
Es ist mittlerweile völlig normalisiert, uns zu beleidigen, beschimpfen oder körperlich anzugreifen.
Matthias Kaiser
Was sollte die Parteispitze denn anders machen?
KAISER: Das geht nur durch das Bereitstellen von zusätzlichen Ressourcen. Erst dann können wir AfD und BSW wirklich etwas entgegensetzen. Dazu müssten sich mehr Bundespolitiker bei uns blicken lassen.
Wie präsent war die Parteispitze hier denn in den letzten Jahren?
KALBE: In Thüringen gab es wenige Termine mit Bundesvorsitzenden, pro Wahlkampf haben sie maximal einen halben Tag investiert. Manchmal wurden Veranstaltungen auch sehr kurzfristig abgesagt. Ich erinnere mich an einen Abend vor ein paar Jahren mit Renate Künast. Sie hat uns auf dem Weg nach Gotha mitgeteilt, dass etwas dazwischengekommen sei. Sowas passiert ständig. In den letzten drei Wahlkämpfen hatten wir hier im Wahlkreis keinen wirklichen Prominenten. Bei AfD und BSW ist das ganz anders. Ob Höcke, Weidel, Gauland oder Wagenknecht. Es macht einen riesigen Unterschied, wenn Leute wahrnehmen, hier kommt jemand und interessiert sich für uns.
Gleichzeitig ist es ja sinnvoll, da hinzufahren, wo man ein vielfach höheres Wählerpotenzial hat.
KALBE: Na klar, in ländlichen Räumen wie Thüringen waren die Wahlergebnisse in den letzten Jahren deutlich unter fünf Prozent. Aber das ist, was wir als Partei strategisch entscheiden müssen. Gibt man einen Raum auf oder versucht man mit aller Kraft, hier was zu ändern?
Haben sich denn die Parteichefs Felix Banaszak oder Franziska Brantner nach Ihrem Brief persönlich bei Ihnen gemeldet?
KALBE: Einen Tag nachdem wir ihnen den Brief geschickt haben, habe ich einen Anruf von seinem Büro bekommen. Ab Montag ist er in Thüringen auf Sommertour. Am Rande eines Termins in Eisenach wollen wir uns persönlich treffen und austauschen.
Dazu will er ein Regionalbüro in Brandenburg eröffnen. Es soll bald auch einen Vorstandsbeirat „Bündnisgrüner Osten“ geben. Überzeugt sie das?
KALBE: Im Moment sieht es so aus, dass wirklich etwas in Bewegung kommt.
KAISER: Der Bundesvorstand hätte schon längst handeln können und müssen. Es geht nicht um schöne Worte und einmalige Besuche. Es geht um langfristige, strukturelle Unterstützung oder zumindest eine Klärung, ob man das noch will. Diese strategische Entscheidung kann man dem Bundesvorstand nicht abnehmen. Was mir Hoffnung macht, sind die Meldungen von einigen Kreisverbänden und Bundestagsabgeordneten. Viele haben sich bei uns gemeldet und Unterstützung angeboten. Das zeigt, wie groß die Solidarität innerhalb der Organisationen ist.