Nahostkonflikt: Langzeitautokrat mit großen Plänen

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Wenn man Palästinenser danach fragt, wann endlich ihre so lange schon hoffnungslose Situation sich zum Besseren wenden könnte, dann lautet die Antwort oft: nach dem Tod von Abu Masen, nach dem Tod von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Ein Fünftel aller Palästinenser, so heißt es, halten ihn Umfragen zufolge noch zu ihm. Die Vorwürfe lauten Korruption, Klüngelei, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Komplizenschaft mit Israel und den USA. Abbas oberstes Ziel sei nicht das Ende der israelischen Besatzung, sondern der eigene lukrative Machterhalt.

Man muss sagen: Dass die Palästinenser Abbas, der nach arabischer Tradition nach seinem ältesten Sohn „Vater von Masen“ genannt wird, je wirklich gefeiert haben, kann man kaum sagen. Gewiss, er wurde 2005 zum Präsidenten gewählt. Aber er war nie ein Charismatiker wie sein Förderer und Weggefährte Jassir Arafat, dem er als PLO-Chef nach dessen Tod  2004 folgte. Im Wahlkampf konnte ihm eine gewisse Sprödigkeit nicht zum Verhängnis werden: Abbas hat nie wieder Wahlen abhalten lassen. In der stark dezimierten Riege arabischer Langzeitautokraten ist er einer der letzten. Und er hat Pläne.

Sein Ton gegenüber der Hamas war zuletzt schärfer geworden

Seit einem Jahr entfaltet seine Palästinensische Autonomiebehörde emsige Aktivität im Westjordanland, das sie in Teilen regiert. Strom, Wasser, Digitalisierung, alles sollte besser werden, die Regierung wurde ausgetauscht. Im April ernannte er auf saudisches Drängen mit Hussein al-Scheich endlich einen Vizepräsidenten – das Amt wurde extra für ihn geschaffen –, in den Augen mancher Beobachter ein möglicher Nachfolger. Und das ist nur das Westjordanland.

Mit inzwischen 89 Jahren will Abbas auch die Macht über den Gazastreifen zurück, aus dem die islamistische Hamas ihn und seine Fatah 2007 hinauswarf. Zuletzt war sein Ton gegenüber dem islamistischen Rivalen schärfer geworden. In einem Brief an seinen französischen Kollegen hat er nach Angaben Emmanuel Macrons nicht nur den Hamas-Angriff am 7. Oktober verurteilt, sondern auch eine Entwaffnung der Hamas versprochen, ja, die Entmilitarisierung und Reformen im Gazastreifen. Wie ihm das gelingen soll, ist schon deshalb unklar, weil Israels Premier Netanjahu in einem Nachkriegs-Gaza jeden palästinensischen Einfluss verhindern will, damit die politischen Umrisse einer Zweistaatenlösung gar nicht erst entstehen. Emmanuel Macron aber zeigte sich von Abbas’ Brief so beeindruckt, dass er daraufhin die Anerkennung Palästinas als Staat ankündigte.

Seine Promotion trug ihm den Vorwurf der Holocaust-Leugnung ein

Mahmud Abbas wurde 1935 in Safed, im heute israelischen Galiläa, geboren. Als der israelisch-arabische Krieg ausbrach, der israelische Staat gegründet wurde und Hunderttausende Palästinenser vertrieben wurden, floh seine Familie nach Syrien. Er studierte Jura in Damaskus und promovierte 1982 in Moskau am Orient-Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Für seine Dissertation hatte er in einer einigermaßen bizarren These einen Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Zionismus angestellt, der ihm den Vorwurf der Holocaust-Leugnung eintrug. Später distanzierte sich Abbas von seiner Promotionsschrift. Mit antisemitischen oder zumindest umstrittenen Äußerungen aber fiel er immer wieder auf, unter anderem im August 2022 bei einem Besuch in Deutschland.

Für die internationale Gemeinschaft gilt er dennoch als kaum ersetzbar. Abbas hat die säkulare Fatah mitgegründet, war einer der Architekten der Friedensverträge von Oslo. Er hat die Intifada, den bewaffneten Aufstand der Palästinenser, verurteilt und giftet jetzt gegen die Hamas: „Ihr Hurensöhne, lasst die Geiseln frei.“

Auf den Straßen Ramallahs demonstrieren allerdings inzwischen auch Palästinenser gegen ihn, weil er hinnehme, dass Israel Gaza aushungert. Sie rufen: „Abu Masen, höre auf die Stimme des Volkes.“ Dass er es tut, ist nicht sehr wahrscheinlich.

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