Verfassungskrise, Autoritarismus, Faschismus: Es mangelte vor und kurz nach dem Wahlsieg von Donald Trump nicht an mahnenden Szenarien für die zweite Amtszeit des Republikaners. Die meisten Medien befassten sich monatelang ausführlich mit der Frage, was im Falle einer Rückkehr Trumps ins Weiße Haus zu erwarten sei. Nun ist ein gutes halbes Jahr vergangen, seit Trump zum zweiten Mal den Amtseid ablegte und den Amerikanern ein „Goldenes Zeitalter“ versprach.
Fest steht: Je älter das Jahr 2025 wird, desto stärker werden sich Trump und die Republikaner auf die Zwischenwahlen zum Kongress konzentrieren und den Wahlkampf vorbereiten. Das kann zur Verschärfung auf Politikfeldern führen, auf denen Trumps Politik bei seinen Wählern besonders populär ist – etwa im Umgang mit Einwanderern.
„Er schickt das Militär in Nachbarschaften“
Viele Beiträge liberaler Medien befassten sich vor der Wahl mit dem „Projekt 2025“, der mehr als neunhundert Seiten langen Sammlung von Forderungen nationalistischer und konservativer Thinktanks unter der Führung der „Heritage Foundation“. In konservativen Medien wie dem „Wall Street Journal“ oder dem „National Review“ führte man derweil einen Balanceakt zwischen Kritik an der Form der MAGA-Kampagne und Unterstützung in der Sache auf.

Die Leserschaft, die auf Steuernachlässe oder laxere Umweltvorschriften für Unternehmen hoffen mochte, wurde dazu ermuntert, dafür auch den Rest der Trump-Agenda in Kauf zu nehmen. Linke Medien wie „Mother Jones“, „The Nation“ und etliche Podcasts wiederum führten eine geschichtswissenschaftlich und sozialtheoretisch informierte Faschismus-Debatte.
Leitende Redakteure der „New York Times“ stellten ihre Befürchtungen für Trumps zweite Amtszeit Ende 2024 in einem Video zusammen. Im schlimmsten Fall werde Trump diesmal „nicht nur extremistisch, sondern auch effizient“ regieren, meinte Nicholas Kristof. Lydia Polgreen prognostizierte, dass Trump seine Ziele mit einem republikanischen Kongress und einer Reihe von Entscheidungen des ihm gewogenen Obersten Gerichts werde erreichen können.

„Er schickt das Militär in Nachbarschaften wie meine, um undokumentierte Einwanderer zusammenzutreiben“, sagte Michelle Goldberg auf die Frage, was in der schlimmsten Version einer neuen Trump-Präsidentschaft geschehen könne. „Dann richtet er ein Netzwerk von Lagern ein.“ Massenabschiebungen und Zölle würden zu einer Rezession und höheren Preisen führen, prognostizierte Jamelle Bouie. Und David French fürchtete, Trump werde die Ukraine im Stich lassen und eine erratische Nahostpolitik machen.
Sorgen- und hoffnungsvolle Töne vor zweiter Amtszeit
Der konservative Times-Kommentator Ross Douthat wiederum machte sich Sorgen, dass Trumps Politik zu einer „Radikalisierungsspirale“ auf der Gegenseite, also bei den Linken, führen werde. Das Magazin „The Atlantic“ hatte schon ein Jahr zuvor eine mit „Falls Trump gewinnt“ überschriebene Sondernummer herausgebracht, in der namhafte Autoren ähnliche Warnungen formulierten. Der Rassismus vieler Trump-Getreuen trete immer wieder klar zutage, ebenso ihr Wunsch, die Demokratie auszuhöhlen, schrieb Chefredakteur Jeffrey Goldberg.
Eine der konkretesten Prognosen lieferten Steven Levitsky und Lucan A. Way Anfang Februar in der Zeitschrift „Foreign Affairs“. Basierend auf einem gemeinsamen Buch schilderten die beiden Wissenschaftler das mögliche Modell des „competitive authoritarianism“ (wettbewerbsorientierten Autoritarismus) unter Trump. Während demokratische Institutionen noch eingeschränkt funktionierten, werde die Macht der Exekutive dabei immer weiter ausgebaut, auch durch ein korrumpiertes Rechtssystem. Verwaltungsakte und Gesetze könnten bei formeller Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu Waffen im Kampf gegen politische Gegner werden, etwa indem man diese mit Klagen oder Steuerverfahren überziehe.

Konservative Medien wie das „Wall Street Journal“ oder „National Review“ schlugen hoffnungsvollere Töne an, lobten Trumps Versprechen zu Deregulierungs- und Verwaltungsabbau, warnten aber auch vor negativen Konsequenzen zu hoher Zölle und möglicher Handelskriege. Manche konservative Kommentatoren übten auch nach der Vereidigung Kritik. Das „Wall Street Journal“ etwa nannte den Gesundheitsminister Robert F. Kennedy eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, kritisierte die Begnadigungen von Tätern des „Kapitol-Sturms“ am 6. Januar 2021 und wandte sich gegen Trumps Ankündigung, das Staatsbürgerschaftsrecht qua Geburt abzuschaffen.
Manche Medien weisen inzwischen darauf hin, dass viele ihrer Voraussagen eingetreten seien – so veröffentlichte die „Washington Post“ kürzlich einen Kommentar ihres Kolumnisten Colbert I. King mit dem Titel: „Sagt nicht, ihr wurdet nicht gewarnt vor dem, was Trump tun würde“.
Die Richter haben Trumps Macht ausgeweitet
Viele der Vorhersagen sind inzwischen tatsächlich eingetroffen, oder Trump ist dabei, sie wahr zu machen – für andere Prognosen gilt das nicht, und zum Teil wurde der Präsident auch gebremst. Was etwa Elon Musks „Doge“-Truppe mit großem Getöse begann, den Kahlschlag in der Verwaltung, geht nun teils langsamer und mit weniger Aufsehen weiter, teils scheitert es an juristischen Hürden und bürokratischen Beharrungskräften.
Andere Vorhersagen haben sich bislang nicht bewahrheitet: Es gibt noch kein bundeseinheitliches Abtreibungsverbot, und auch Anne Applebaums Prognose im Magazin „The Atlantic“, dass Trump der NATO den Rücken kehren werde, ist nicht eingetreten. Auch die Befürchtung vieler Kommentatoren, dass es etliche Verhaftungen von namhaften Gegnern unter Vorwänden geben könnte, ist bislang nicht wahr geworden.

Doch diese Szenarien waren nicht unrealistisch und behalten ihr Einschüchterungspotential – andere Länder lassen sich durch die Drohung mit dem NATO-Aus zum Beispiel leichter zu Konzessionen bewegen. Und statt individueller Gegner schüchtert Trump vor allem Medien mit Klagen ein, stellt sich das Justizministerium nicht hinter Richter, die Morddrohungen erhalten, und hält man studentische Aktivisten wie Mahmoud Khalil monatelang in Abschiebehaft fest.
Die konservative Richtermehrheit am Obersten Gericht erfüllt unterdessen im Großen und Ganzen, wofür sie eingesetzt wurde – Trumps Macht haben die Richter ausgeweitet, die Befugnisse von Bundesrichtern eingeschränkt. Und das „Projekt 2025“ hat sich in vielerlei Hinsicht tatsächlich als ein Leitfaden für die zweite Amtszeit erwiesen.
Gewalt bei Abschiebungen stellt Prognosen in den Schatten
Überprüfen kann man das auf einer Website namens project2025.observer, welche die Forderungen der Thinktanks mit den bisher erlassenen Verordnungen und Gesetzen vergleicht. Etliche Vorhaben mit Titeln wie „Anreize für Bundesstaaten zum Ausweiten von Medicaid reduzieren“ gelten demnach als erreicht. Die Krankenversorgung für Arme soll nach der Verabschiedung der „Big Beautiful Bill“ schrittweise eingeschränkt und an Arbeitsauflagen geknüpft werden. Der Fortschritt des Gesamtprojekts wird auf der Seite mit 47 Prozent angegeben. Zu hundert Prozent erreicht sei zum Beispiel die Zerschlagung der Entwicklungshilfe von USAID.
Die ist ein Beispiel dafür, dass die schlimmsten Prognosen für viele Menschen schon längst wahr geworden sind. Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte zitierte Ende Juli Berichte, denen zufolge bis zu 350.000 Menschen aufgrund der Streichung der Hilfen in diesem Jahr gestorben seien, darunter 200.000 Kinder. Jede Minute kämen Menschen wegen der Kürzungen ums Leben, so die UN. Nicht viele Kritiker hatten das in dieser Dramatik vorausgesehen, obwohl die Streichung der Entwicklungshilfe eine der vielen Forderungen im „Projekt 2025“ war.

Die Prognosen waren auch eher vage, was die Gewalt bei Abschiebungen anging. Was sich seit Monaten tatsächlich ereignet, stellt diese Voraussagen in den Schatten. Überall im Land verbreiten maskierte Männer von der Abschiebebehörde ICE Angst und Schrecken, werden Menschen nach ihren ordentlichen Asylterminen durch Gerichtsflure gezerrt und Eltern auf offener Straße vor den Augen ihrer Kinder in Autos ohne Kennzeichen abtransportiert.
Und wer hätte voraussagen wollen, dass Menschen ohne Verfahren in ausländische Foltergefängnisse abgeschoben oder in ein Lager verbracht werden, für das die lokale Regierungspartei Fanartikel mit der Aufschrift „Alligator Alcatraz“ verkauft?
Nicht jeder ist gleichermaßen betroffen
Den weiteren Rückbau der Errungenschaften des „New Deal“ und nachfolgender Programme haben dagegen die meisten Kommentatoren vorhergesehen – er steht schließlich schon seit Jahrzehnten auf der Agenda der Republikaner. Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen werden Krankenversicherung, Essensbeihilfen und Wohngeld verlieren. Programme wie „Head Start“, die Millionen armen Kindern geholfen haben, schränkt die Trump-Regierung ein, ebenso Mittel für öffentliche Schulen in armen Stadtteilen.
Gewerkschaften werden selbst im öffentlichen Dienst verdrängt, Obdachlosigkeit wurde per Verordnung kriminalisiert, Forschung zu Impfungen, medizinischem Rassismus, Frauengesundheit eingestellt. Klimaschutzziele und umweltpolitische Maßnahmen nimmt Trumps Regierung hundertfach zurück, mit nicht absehbaren Folgen. Universitäten sollen überwacht werden: Hochschulen, die viele Nichtweiße zum Studium zulassen oder einstellen, können unter „DEI“-Verdacht geraten und finanziell erpresst werden.
Und der Supreme Court könnte in der nächsten Entscheidungsperiode den Kern des Voting Rights Acts beseitigen, wenn er einer Gruppe von Weißen in Louisiana recht gibt, die wegen angeblicher Diskriminierung durch dessen wichtigste Vorschriften klagt.
Die Liste ganz oder teils eingetroffener Prognosen ist also lang. Aber diese neue Realität trifft längst nicht alle Menschen gleich, und der Rückzug ins Private kann für diejenigen, die nicht betroffen sind, keine Betroffenen kennen oder sich nicht für deren Schicksale interessieren, immer noch gelingen. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat im Gespräch mit dieser Zeitung vor einiger Zeit deswegen von einer „asymmetrischen Diktatur“ gesprochen – er meinte damit, dass Willkür, Angst und die Einschränkung von Rechten nicht alle in gleichem Maß betreffen. Diejenigen, die etwas risikoloser als andere protestieren können, tun es deswegen oft nicht. Oder noch nicht.