Bernd Sösemann 80: Was wohl in seinem eigenen Tagebuch steht?

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Es ist der 10. Oktober 1989. Im hessischen Hofgeismar findet eine Tagung statt, auf der prominente Historiker von den Universitäten und der Akademie der Wissenschaften der DDR sich mit ihren westdeutschen Kollegen treffen, um einem gemeinsamen Stand in der Beurteilung der preußischen Geschichte, insbesondere der Reformzeit, näher zu kommen. Alles ist schon wie verwandelt. Große Offenheit auf beiden Seiten. Präsidiert wird dieser denkwürdigen Veranstaltung von Bernd Sösemann. Seit 1985 ist er Professor für Allgemeine Publizistik mit dem Schwerpunkt Geschichte der öffentlichen Kommunikation und der Publizistikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Aber er ist auch gerade Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte geworden.

Mitglied der Preußischen Historischen Kommission ist er ebenso. Im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem hat man ihn auf ein Desiderat der Forschung hingewiesen, den liberalen Reformbeamten Theodor von Schön, um dessen nachgelassene Schriften sich Sösemann jahrzehntelang kümmern wird.

Dissertation zu Theodor Wolff

Doch noch eine andere Sache verbindet Sösemann mit Preußen. Der Berliner Journalist und Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“ Theodor Wolff war Gegenstand von Sösemanns Göttinger Dissertation. Wolff aber war wie kein anderer mit den wohlinformierten Kreisen der Hauptstadt Preußens und des Deutschen Reichs vertraut.

Wenn man Wolffs Tagebücher las, die Sösemann ediert hat, dann wurden einem Einblicke in die Erzählungen der Entscheidungsträger Berlins gewährt, und zwar schon 1914, in der Krise, die den Ersten Weltkrieg gebar.

Denn Theodor Wolff kannte Kurt Riezler, den Mitarbeiter des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg. Wolff hatte sich Äußerungen Riezlers notiert, die Sösemann mit dem Tagebuch Riezlers konfrontierte, das der Kieler Professor Karl Dietrich Erdmann 1972 publiziert hatte. Sösemann glaubte festzustellen, dass das Riezler-Tagebuch stellenweise nachbearbeitet, diese Nachbearbeitung aber vom Editor nicht gekennzeichnet worden war. Er trat 1983 mit akribischer Quellenkritik eine Kontroverse los, die ihn so bekannt machte, dass er sogar im Universitätsroman „Der Campus“ von Dietrich Schwanitz Erwähnung gefunden hat.

Eine solche Kontroverse, von einem Wissenschaftler betrieben, der noch in der Unsicherheit des akademischen Mittelbaus steckte, war riskant. Als Sösemann sie glänzend bestand, wurde er für mich, den Jüngeren, zum Vorbild, genauso wie andererseits durch die liebenswürdige Sitzungsleitung auf den Tagungen der Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte. 2014 erlebte die Riezler-Kontroverse noch einmal eine Fortführung, diesmal zeigte sich, wie Entzifferung von Handschriften und Textexegese aufeinander bezogen sind.

Ein Experte für Tagebücher

Ein akribischer Kritiker von Editionen blieb Sösemann sein Berufsleben hindurch, er betreute aber ebenso eigene Projekte wie die Wochensprüche der NSDAP und zuletzt gemeinsam mit Stefan Meineke die Quellen zur politischen Betätigung des verfassungstreuen Hochschullehrers Friedrich Meinecke. Vor allem aber ist er durch die Beschäftigung mit Theodor Wolff so tief in die Theorie des Tagebuchs als Textgattung eingedrungen wie wenige, etwa mit der Bemerkung: „Tagebücher aus solchen Epochen der Bedrohung und Unruhe lesen sich wie Belege für einen immanenten Ausdruckszwang.“

Sorgfältige Vorbereitung, vor allem Einbindung der kompetentesten Autoren, war auch Kennzeichen des zweibändigen Sammelwerkes, das Sösemann mit Gregor Vogt-Spira zum dreihundertsten Geburtstag Friedrichs des Großen herausbrachte – in der Villa Vigoni am Comer See wurde das Werk geplant, das den Preußenkönig in Europa lokalisierte und auch als Denker und Schriftsteller würdigte. Die herausragende Bedeutung zu untersuchen, die Friedrich in Selbstbild und Propaganda autoritärer Regimes bekommen hat, unternahm Sösemann, der Gastprofessuren an italienischen Universitäten hatte, selbst.

So verband er den Exkurs in die Tiefe vergangener Jahrhunderte stets mit der aufmerksamen Beobachtung des eigenen. Den Putsch gegen Gorbatschow erlebte er als Reisender in Moskau mit. Der engagierte Demokrat stand seiner Universität auch nach der Pensionierung zur Seite und tut es als Vorsitzender der Friedrich-Mei­necke- Gesellschaft immer noch. Heute feiert Bernd Sösemann seinen achtzigsten Geburtstag.

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