
Sängerin Balbina
Foto: Bella LieberbergDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Balbina – »Infinity Tunes«
Vielleicht ist das so. Vielleicht verlässt man das Kinderzimmer der eigenen Seele tatsächlich nie. Wenn einschneidende Dinge im Leben geschehen, dann fließt das sorgsam aufgemalte Erwachsenengesicht wieder mitsamt den Tränen in das Kopfkissen. Durch die Vorhänge blinzelt die Sonne und wirft ein Licht auf die existenziellen Fragen: »Wenn ich nicht weiß, wer ich bin, wer soll es dann wissen«, fragt die Berliner Sängerin Balbina in »Kissen«, einem der Songs ihres neuen, fünften Albums.
Aber so nüchtern wie sich diese Zeile liest, so groß ist das Drama, das sich darin verbirgt. Offenbart wird es durch eine im deutschen Pop nach wie vor einzigartige Art des Gesangsvortrags.
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Balbina Jagielska machte in den vergangenen Jahren eher mit kulturpolitischem Engagement als mit Musik auf sich aufmerksam. Sie bemüht sich vor und hinter den Kulissen der Berliner Politik hartnäckig um ein gerechteres Entlohnungssystem bei Streamingdiensten. Seit zwei Jahren ist sie zudem Kreativdirektorin des Polyton Musikpreises der Initiative Musik und Sprecherin der zugehörigen Akademie für populäre Musik, für die sie 2024 unter anderem einen runden Tisch zum Thema Antisemitismus-Bekämpfung im Pop organisierte. Ihr letztes Album »Punkt« erschien 2020. Aber auch nach dieser längeren Schaffenspause, das zeigt die Gefühlstiefe von »Infinity Tunes«, ist Balbina immer noch die beste Soul- und R&B-Sängerin, die das Land zu bieten hat.
Dabei hätte das Album eigentlich ganz anders klingen sollen. Es war fast fertig, als im vergangenen Jahr Balbinas Vater starb, eine ihr weitgehend unbekannte, entfremdete Person, die sich früh, bald nach dem Umzug der Eltern von Warschau nach Berlin-Neukölln, von der Familie losgesagt hatte und keine Rolle mehr im Leben der Tochter spielen wollte.
Das zuvor gesetzte Ewigkeitsthema von »Inifinity Tunes« – eine Beschäftigung mit der Zeit in Bezug auf ihr Leben und ihre Karriere – behielt sie bei, doch sechs der acht Songs des Albums schrieb sie neu. Den Schmerz eines Verlustes, der eigentlich keiner ist, das Bedürfnis zu weinen, obwohl die Trauer fehlt, all das verhandelt die Sängerin auf bestürzende, berührende Weise in ihrem Song »Vatertag«. Der Tag, an dem ihr Vater starb, singt sie, war »ganz normal«: Sonne, Regen, es war warm. Es war aber eben auch der Tag, »an dem es plötzlich einen Vater gab«. So wird der eigentlich fade Tag allein durch Balbinas Kunst der Phrasierung zum »Vatertag«.
Die 42-Jährige ist eine Meisterin der Sprachbilder und -klänge, die sich in ihren Texten zu Zuständen formen. Ihre Songs sind wie Hochdruckkammerspiele, von außen unspektakulär, wenn nicht anschmiegsam und Pop-gefällig, doch im Inneren brodelt eine große Oper der Emotionen. Das Spannungsfeld zwischen cooler Urbanität und flammender Tragödie bildet sich auch in der Musik ab: in den zeitgemäßen Beats und R&B-Arrangements des langjährigen Weggefährten und Co-Produzenten Biztram, die mit den Streichern und der Klassik des Filmorchesters Babelsberg harmonieren und kontrastieren. Das Orchester begleitete Balbina schon bei früheren Live-Auftritten, so auch bei ihren jüngsten Gala-Konzerten in der Berliner Philharmonie und der Hamburger Elbphilharmonie.
Auf ihrem zweiten Album »Über das Grübeln« von 2015 etablierte Balbina ihre Methode, Gefühle wie Prokrastination oder Selbstzweifel an Alltagsgegenständen festzumachen, einem Blumentopf, Ohropax oder Seife. Heute benötigt Balbina in ihren Texten weniger Hilfsmittel, um Zustände wie in »Das Gefühl ist tot« zu beschreiben. Sie verlässt diesen Schutzraum der Dinge und steht selbst »im Leben wie ’ne Wand aus Stahl«. Das singt sie in der Ballade »Im Mai« mit plötzlich gar nicht mehr exaltierter Stimme, ganz klar und offen, während sie im Monat ihres Geburtstags in der Frühlingssonne steht und den Duft des weißen Flieders einatmet.
Die Musik dazu ist so dynamisch und mitreißend, wie nur ganz großer, erlösender Pop es sein kann. Aber Balbina ringt selbst in diesem Moment schon wieder damit, die Gefühle, das unausweichliche Drehen am Rad der Jahreszeiten und Zeitläufe zuzulassen: »Ich erstarre!«, singt sie flehend und fürchtet, wie eine Porzellanpuppe zu zerspringen. Das passt zu ihren ausgefallenen, oft auch etwas steif und statisch wirkenden Bühnenkleidern, in die sich die Sängerin gern hüllt – wie in eine Rüstung.
Jetzt hat sie die wohl ewige Seelenfestung der Einsamkeit auf eindrucksvolle Art gesprengt. In den Songs von »Infinity Tunes« gibt sie sich plötzlich ganz nahbar und roh, zeigt sich – Schock! – im Video zu »Vatertag« sogar in Jeans und T-Shirt. Umso kunstvoller gestaltet sind die visuellen Einblicke in ihre inneren Welten, die man in dem Hochglanzmagazin (mit QR-Code) sieht, das statt CD oder Vinyl als innovativer »Tonträger« für das Album dient. Ein Weg, um sich in Zeiten mickriger Streamingerlöse ein Leben als mittelständische Künstlerin finanzieren zu können. So bleibt Balbina auch hier eine wichtige Stimme in der Kulturpolitik, noch eminenter aber ist ihre Stimme in der Musik. (8.5/10)
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Kurz abgehört:
Billy Nomates – »Metalhorse«
Der Tod ihres Vaters ereilte auch die britische Musikerin Tor Maries alias Billy Nomates bei den Aufnahmen zu ihrem dritten Album. Der emotionale Stress drohte die Arbeit in einem Studio im spanischen Sevilla zunächst zum Erliegen zu bringen, doch Maries dachte, das hätte ihren Dad »so richtig angepisst«. Also zwang sie sich zum Weitermachen.
Erstmals seit ihrem vor fünf Jahren veröffentlichten Debüt-Album spielte sie ihre Songs mit einer Band ein, was den Sound von »Metalhorse« noch weicher und wärmer macht als zuletzt auf »CACTi«. Darauf klang sie bereits mehr nach Sheryl Crow als nach den Sleaford Mods, die sie einst zum Musikmachen inspiriert hatten. Jetzt scheint die Transformation von Billy Nomates vom Neo-Postpunk-Phänomen zum Americana-Pop-Projekt so gut wie abgeschlossen. Im Titeltrack taucht sie die Trotzigkeit ihres bisherigen Sprechgesangs mit einem nicht minder widerständigen Ironie-Gesang, der an Fiona Apple erinnert. Danach rockt sie mit verblüffend schwungvoller Springsteen-Gestik, viel Fleetwood-Mac-Flair und beherzter Melodik durch ein Konzeptalbum, das in einem halb verfallenen, dysfunktionalen Vergnügungspark spielt.
Natürlich ist das ein Synonym für die Achterbahnfahrt des Lebens: Allein die musikalische Metamorphose der 35-jährigen Spätstarterin von 2020 bis heute war spektakulär, »one hell of a ride«, um in der Fahrgeschäfts-Lingo eines Rummelplatzes zu bleiben. Einsteigen, bitte! (8.0/10)
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Peter Doherty – »Felt Better Alive«
Ja, er hat überlebt. Den Drogennebel des Grauens, die Nullerjahre voller Exzesse, die grellen Entblößungen der Boulevardpresse. Mit 46 Jahren ist das langjährige Sorgenkind des britischen Indierocks ein sanfter Barde, der auf einer Klippe über dem Atlantik in der Normandie lebt. Ab und zu kommt er in die großen Städte, um mit seiner kraftvoll reaktivierten Band The Libertines aufzutreten oder Selbstgemaltes in Galerien zu zeigen. Er trägt Hut und ein gemütliches Bäuchlein – und hat seinen Vornamen vom verschlagenen Pete zum versöhnlichen Peter geändert. Es ist ein großes Glück für ihn selbst, aber auch die Musik, dass Doherty seinen Exzessen nicht zum Opfer gefallen ist.
Das ist ihm natürlich auch bewusst. Im lebensbejahenden, Johnny-Cash-artigen Titelsong seines neuen Solo-Albums, »Felt Better Alive« geht er auf Zehenspitzen um Grabsteine herum, um »old songs« auszugraben. Dabei braucht er gar keine alten Kamellen. Die mit Britpop-Vorbildern wie The Kinks und Small Faces durchtränkten Melodien seiner neuen Stücke scheinen nüchtern noch viel heller als früher.
Zum Beispiel »Pot of Gold«, ein beschwingter Gutenachtsong für seinen kleinen Sohn, in dem er sich sympathisch offenherzig gibt: »And if that lullaby is a hit/ Daddy can buy you loads of cool shit«. Ihm sei bewusst, dass er immer noch die Stücke schreiben kann, die zu Bestellern werden, »the kind of shit they pay millions for«. Die hier lässig hingeworfenen Reste aus der letzten Libertines-Session sind eher wie die Skizzen, die er jüngst ausgestellt hat, Szenen aus seinem neuen, beschaulichen Alltag: niedlich, manchmal schräg und kritzelig, aber immer ergreifend. (7.5/10)
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Kadavar – »I Just Want to Be a Sound«
Auf die Frage, warum er keine Social-Media-Accounts habe, antwortete der damals neue Bassist Simon »Dragon« Bouteloup der Legende zufolge: Ich will einfach nur ein Sound sein. Fair enough. Über ein Jahrzehnt später stellen die Berliner Psychedelic-Rocker Kadavar diesen Puristen-Spruch als Titel über die bisher radikalste Neudefinition ihres Sounds. Über Berlin hinaus bekannt wurde die Band mit einem Retro-Hardrock, dessen metaphorischer Bart mindestens so lang war wie die Kopf- und Gesichtsfrisuren der drei Bandmitglieder.
Doch schon auf dem Pandemie-Album »The Isolation Tapes« lockerte die Band, inzwischen verstärkt durch den Gitarristen Jascha Kreft (The Odd Couple), ihr knochenhartes Konzept und ließ neue Schwingungen zu. Jetzt verblüfft das Titelstück des achten Albums mit Synthesizer-Gehibbel und einem griffigen Pop-Refrain, der an Neo-Psychedeliker wie Tame Impala denken lässt. Man könnte auch behaupten, der Sound-Quantensprung von Kadavar wecke ungute Erinnerungen an den Übergang von Jefferson Airplane zu Starship in den Achtzigerjahren (»We Built This City« und so weiter). Lustig, aber auch ein bisschen unfair. Zur Beruhigung alter Fans gibt es hinreichend stramm marschierende Trostpflaster wie »Hysteria", »Regeneration« oder »Scar On My Guitar«, aber auch in ihnen kommen Elektronik-Injektionen und Pop-Sensibilitäten zum Tragen – sicher auch Verdienst von Produzent Max Rieger (Die Nerven, All diese Gewalt) – in denen sich der Wille zur musikalischen Transformation offenbart. In den besten Momenten, darunter »Let Me Be a Shadow«, »Sunday Mornings« und die Powerballade »Star«, entsteht dabei ein faszinierendes, von allen Genre-Zwängen erlöstes Hybrid aus Krautrock, Depeche-Mode-Melodik und purer Lust am Lärm, äh, Sound. (7.8/10)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)