Arzneimittelreform: Wirkstoff Profit

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Schon vor Corona waren Krebsmedikamente, Fiebersäfte und Antibiotika in Deutschland knapp. Doch im Frühjahr 2020 drohte die Situation, völlig außer Kontrolle zu geraten. Die Produktion von Arzneimitteln in Asien stockte, ebenso der Transport in die EU-Länder. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn forderte deshalb, man müsse bei Arzneimitteln unabhängiger von Asien werden. „Wir wollen finanzielle Anreize setzen, um die Produktion wichtiger Wirkstoffe wieder nach Europa zu verlagern“, sagte er damals in einer Videokonferenz mit anderen EU-Staaten.

Die Pandemie ist inzwischen vorbei, der Gesundheitsminister heißt Karl Lauterbach. Nur die Abhängigkeit von Asien ist geblieben. So schnell wird sich daran auch nichts ändern. Das liegt zum einen an den Gesetzen, nach denen der Medikamentenmarkt in Deutschland und Europa funktioniert, zum anderen an den Produktionsbedingungen in Asien.

Die Produktion von Arzneimitteln rechnet sich kaum noch in Deutschland

Vor mehr als zwei Jahrzehnten führte Deutschland Rabattverträge ein, um die Kosten für Arzneimittel zu senken. Krankenkassen können seitdem direkt mit den Herstellern bessere Preise aushandeln, wenn sie im Gegenzug garantieren, dass ihre Versicherten im Normalfall dann auch nur die Medikamente dieses Herstellers bekommen. Zudem wurden Festbeträge festgelegt. Kostet ein Medikament mehr, müssen Versicherte den Differenzbetrag selbst zahlen. Oder auf ein anderes billigeres Präparat ausweichen. Beide Maßnahmen dämpfen die Preise für Arzneimittel in Deutschland – zur Freude von Patientinnen und Versicherten.

Die Kehrseite: Wenn ein Wirkstoff oder ein Medikament auf dem Weltmarkt knapp wird, liefern Hersteller das Produkt eher in andere Länder, wo die Gewinnmargen höher sind. Auch die Produktion rechnet sich angesichts der niedrigen Preise kaum noch in Deutschland, jedenfalls für Medikamente, deren Patentschutz abgelaufen ist. Diese sogenannten Generika machen aber etwa 70 bis 80 Prozent der Grundversorgung in Deutschland und den anderen EU-Staaten aus. Sie kommen fast ausschließlich aus Asien.

China schlug vor Jahrzehnten einen völlig anderen Weg ein als Deutschland und Europa. Das Land wollte unabhängig werden von europäischen Medikamenten und baute seine eigene Pharmaproduktion auf. Was auf dem eigenen Markt nicht benötigt wurde, ging in den Export. In Indien entstand eine Industrie, die die Wirkstoffe aus China zu Tabletten, Salben und Kapseln verarbeitete. Nach und nach setzten sich die Produkte aus Asien auf dem Weltmarkt durch. Die Wettbewerbsvorteile von damals sind dieselben, die heute die Rückverlagerung nach Europa so schwer machen: niedrigere Energie- und Lohnkosten, geringere Arbeits- und Umweltstandards.

Europa werde deshalb viel Geld in die Hand nehmen müssen, um wenigstens einen Teil der Produktion wieder in der EU anzusiedeln, prophezeit Ulrike Holzgrabe, Professorin für Chemie und Pharmazie an der Uni Würzburg. Die völlige Unabhängigkeit von Asien hält sie für illusorisch. Die Herstellung von Medikamenten sei ein komplexer, mehrstufiger Vorgang. Ausgangsstoff vieler Arzneien sei nach wie vor Erdöl, dessen weitere Verarbeitung eine Chemie erfordere, die sich mit europäischen Umweltauflagen kaum vertrage. In weiteren Schritten würden zahlreiche Wirkstoffe, Hilfsstoffe und Zwischenprodukte hergestellt. Das geschehe auch noch an vielen verschiedenen Standorten, weshalb die Produktion von Arzneimitteln laut der Expertin Holzgrabe eine sehr intransparente Angelegenheit sei. Was bedeutet: Mit der Produktion ist in Europa auch Know-how verloren gegangen.

Gesundheitsminister Lauterbach hat mit seiner Arzneimittelreform vergangenes Jahr versucht, die Situation in Deutschland zu stabilisieren. Wenn Medikamente knapp sind, können Festbeträge ausgesetzt werden. Die Kassen zahlen Herstellern dann höhere Preise. Damit steigen die Chancen, auf dem Weltmarkt Ware zu erhalten, selbst wenn ein Engpass besteht. Für Kinderarzneien wurden Rabatt- und Festbeträge ganz abgeschafft. Zudem wurden Pharmahändler, Krankenhäuser und Apotheken verpflichtet, für kritische Medikamente einen Vorrat anzulegen.

Fachleute halten die Maßnahmen für sinnvoll, sie sind im Gesetz gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln festgeschrieben. Doch an der grundsätzlichen Abhängigkeit Deutschlands und Europas ändern sie nichts. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Medikamente nicht nur knapp werden können, sondern die Produktion ganz ausfallen kann – wie 2016, als in China eine Fabrik explodierte, die den Großteil des Wirkstoffs für die in Krankenhäusern oft genutzte Antibiotika-Kombination aus Piperacillin und Tazobactam produzierte. Denkbar wäre auch, dass China sein Quasimonopol für politische Zwecke nutzt. Die Chemikerin Holzgrabe brachte das vor einigen Jahren auf eine drastische Formel: Die Chinesen brauchten „gar keine Atombombe“. Wenn sie keine Antibiotika mehr lieferten, „erledigt sich Europa von ganz allein“.

Nutzen würden nach Ansicht der Branche allein finanzielle Hilfen für Unternehmen

Lauterbachs Gesetz enthält zwar auch Anreize für Hersteller, in Europa zu produzieren. Krankenkassen müssen diese Hersteller stärker berücksichtigen, wenn sie ihre Verträge aushandeln. Doch eine Umfrage ergab jüngst, dass die Produzenten von Antibiotika und Krebsmitteln deshalb nicht mit einem Ausbau der Fertigung in Europa rechnen. Nutzen würden nach Ansicht der Branche allein finanzielle Hilfen für Unternehmen, Österreich habe es vorgemacht. Als 2020 die Penicillin-Produktion in Kundl zur Disposition stand, schoss das Land 50 Millionen Euro zu, um den Standort in Tirol zu sichern. Der Novartis-Konzern steuerte 100 Millionen Euro bei und verpflichtete sich, weitere zehn Jahre in Tirol zu produzieren.

Die EU hat inzwischen eine Liste kritischer Arzneimittel erstellt, die für die Behandlung von Patientinnen und Patienten unverzichtbar sind. Für mehr als 200 Wirkstoffe sollen künftig Engpässe vermieden werden. Es wäre schon ein Fortschritt, sagt die Expertin Holzgrabe, wenn Europa nur einen Teil davon selbst herstellen könnte. Sie fordert aber auch ein Notfallplan dazu, welche Produktionsanlagen es überhaupt noch in Europa gibt und wie schnell sie wieder genutzt werden könnten. Um wenigstens etwas vorbereitet zu sein, wenn „wirklich mal nichts mehr kommt aus China und Indien“.

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