
Nur gucken, nicht hochheben: Bielefelds Maximilian Grober
Foto:Annegret Hilse / REUTERS
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Szene des Spiels: Es war nur ein Befreiungsschlag, mit dem Stuttgarts Angelo Stiller den Ball nach einer Bielefelder Ecke in hohem Bogen zum Mittelkreis bolzte. Seine Mitspieler liefen obligatorisch hinterher, um den Gegner sofort wieder zu bedrängen. Als der Ball herunterfiel, waren gleich zwei Arminen zur Stelle: Sam Schreck und Marius Wörl. »Doppelt hält besser« galt in diesem Fall aber nicht, die beiden kamen einander in die Quere und verloren den Ball, sodass Stuttgarts Deniz Undav und Enzo Millot allein aufs Tor zuliefen und auf 2:0 stellten (22. Minute).
Ergebnis: Der VfB Stuttgart gewann das Endspiel des DFB-Pokals im Berliner Olympiastadion gegen Arminia Bielefeld 4:2 (3:0) durch Tore von Nick Woltemade (15.), Millot (22., 66.) und Undav (28.). Die Treffer für Bielefeld erzielten Julian Kania (82.) und Stuttgarts Josha Vagnoman (85., Eigentor). Für den Erstligisten ist es der erste Pokalsieg seit 28 Jahren.
Doch noch Europa League: Vor einem Jahr stellte der VfB gefühlt die Hälfte der deutschen Nationalmannschaft. Trainer Sebastian Hoeneß hatte das Team von der Relegation auf Rang zwei geführt – zwischen Bayer Leverkusen, dem ersten ungeschlagenen Team der Bundesligahistorie, und Rekordmeister Bayern München. Dem Hype folgte der Flop, dieses Jahr Stuttgart nur Neunter, in der Rückrunde verlor der VfB fünf Heimspiele in Folge, ist jetzt aber über Umweg doch für den Europapokal qualifiziert. Um ein Banner zu zitieren, das in der Stuttgarter Kurve vor Anpfiff zu sehen war: »DES GLAUBSCH AU KOIM.«

Choreo der VfB-Stuttgart-Anhänger vor Spielbeginn
Foto:Filip Singer / EPA
Der Schmerz: Welche Euphorie diese Bielefelder Mannschaft ihren Fans geschenkt hatte, zeigten die Zahlen nach dem Halbfinaltriumph gegen Titelverteidiger Bayer Leverkusen, bereits der vierte Sieg gegen einen Erstligisten in dieser sagenhaften Pokalsaison. Die Nachfrage für Bahntickets von Bielefeld nach Berlin stieg um 46.600 Prozent (kein Tippfehler), rund 1,6 Millionen Fans wollten Tickets für das Olympiastadion in Berlin. Dort riss die Serie aber auf brutale Weise.
Die erste Hälfte: Begann mit einem Schreckmoment für alle, die es mit Stuttgart hielten. Völlig frei konnte Noah Sarenren Bazee im VfB-Strafraum abschließen, traf aber aus nur fünf Metern die Latte (12.). Es war der Wendepunkt der Partie, nach nicht mal einer Viertelstunde, denn danach zerbröselten die Bielefelder. Zwei Fehler im Spielaufbau (15. und 28.) sowie ein groteskes Missverständnis nach einer eigenen Ecke (22.) raubten den Bielefeldern alle Hoffnung.
Stillers Pässe sind tief: Dem ersten sowie dem dritten Stuttgarter Treffer ging voraus, dass VfB-Sechser Stiller mit Überblick und Gedankenschnelligkeit erkannte, was zu tun war und ohne zu zögern seine Angreifer mit Steilpässen Richtung Tor schickte. Klar, Bielefeld machte seinem Gegner gute Angebote – aber die nutzt nicht jeder so humorlos wie Stiller, der Schlüsselspieler für Stuttgart in diesem Pokalendspiel.

Bielefeld überfordert, Stiller (r.) souverän
Foto: Annegret Hilse / REUTERSDie zweite Hälfte: Nach dem nächsten Aufbaufehler Bielefelds erhöhte Millot auf 4:0 (66.), ein Kopfballtor von Atakan Karazor wurde wegen Abseits aberkannt (70.). Lange mühte sich Bielefeld um einen Ehrentreffer, lange blieb VfB-Keeper Alexander Nübel stur, erst Julian Kania gelang mit einem geschickten Abschluss nach flacher Hereingabe der Durchbruch (82.) – der erste Treffer eines Drittligisten in einem Finale des DFB-Pokals. »Erleben wir hier doch noch ein Wunder?«, brüllte ZDF-Kommentator Gari Paubandt nach dem Eigentor von Vagnoman zum 2:4 (85.). »Nein«, lautete die Antwort.
Nicht mit uns: Union Berlin, SC Freiburg, Werder Bremen und sogar Bayer Leverkusen, sie alle unterlagen dem notorischen Fahrstuhlklub Arminia Bielefeld, der vergangene Saison beinahe in den Amateurfußball abgerutscht wäre. Im Pokal schienen die Arminen unbesiegbar, die letzte Niederlage nach 90 Minuten hatte es vor zweieinhalb Jahren im Oktober 2022 gegeben. Der Gegner damals hieß, natürlich, VfB Stuttgart, die Partie endete 0:6.

Enzo Millot bei seinem Treffer zum 4:0
Foto:Fabrizio Bensch / REUTERS
Trostpreis: Der große Traum vom DFB-Pokalsieg und internationalen Spielen in der nächsten Saison bleibt zwar unerfüllt, doch für die Arminen ist nach wie vor ein zweiter Titel neben der Drittligameisterschaft drin: der Landespokal Westfalen. Schon am kommenden Donnerstag tritt Bielefeld im Endspiel gegen die Sportfreunde Lotte an. Bei einem Sieg gäbe es dann wenigstens das Double des kleinen Mannes zu feiern.
Eintrag in die Geschichtsbücher: Wenn man die Zweitligameisterschaft von 2017 nicht mitzählt, lag der bislang letzte Stuttgarter Titel fast 20 Jahre zurück. 2007 war das, als Mario Gómez und Cacau den VfB zum Deutschen Meister schossen. Der letzte Pokalgewinn lag noch mal zehn Jahre weiter zurück. Damals, in der Saison 1996/1997, stand ein gewisser Joachim Löw an der Seitenlinie, in der Offensive zauberte das magische Dreieck aus Fredi Bobic, Giovane Elber und Krassimir Balakow. In diese Riege von Klubikonen reihen sich jetzt Stiller, Woltemade und Co. ein. Wenn sie dem Vorbild des letzten Stuttgarter Pokalsiegers folgen, dann wird die kommende Europa-League-Saison eine gute: 1997/1998 erreichte der VfB das Finale des Europapokals der Pokalsieger.