Angegriffen, bedroht und beleidigt Anzahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland drastisch gestiegen
Relativierung der Schoa, Hakenkreuze, Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden: Im vergangenen Jahr wurden 8627 antisemitische Vorfälle in Deutschland erfasst – ein drastischer Anstieg.
04.06.2025, 10.30 Uhr

Schmierereien an einem Haus in Neukölln
Foto: Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpaAntisemitische Beleidigungen auf offener Straße in Leipzig, Hakenkreuze und Davidsterne an Wohnungstüren von Jüdinnen und Juden, Schläge und Tritte gegen einen jüdischen Studenten: Im vergangenen Jahr wurden 8627 antisemitische Vorfälle in Deutschland erfasst. Das teilte der Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) in Berlin mit.
Demnach stieg die Anzahl antisemitischer Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr um mehr als drei Viertel (76,6 Prozent) an. Rechnerisch ereigneten sich demnach im vergangenen Jahr knapp 24 antisemitische Vorfälle pro Tag gegenüber 13 pro Tag im Jahr 2023.
Antisemitisch motivierte Vorfälle verschärften die ohnehin angespannte Sicherheitslage und verstärkten das Gefühl von Verunsicherung, heißt es in einer Rias-Pressemitteilung. Der zivilgesellschaftliche Aufschrei sei dagegen verhalten geblieben, kritisierte der Verband.
Die Vorfälle seien vor allem als Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zu verstehen. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) aller dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Jahr 2024 hatten einen Bezug zu Israel und zum anhaltenden Krieg in Nahost, teilte Rias mit.
Auffällig sei die Zunahme von Vorfällen in politischen Kontexten: Bundesweit seien im vergangenen Jahr 1802 Versammlungen erfasst worden, bei denen Antisemitismus verbreitet worden sei. »So wurden etwa die Schoa relativiert, antisemitische Gewalt verherrlicht, oder Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah gefeiert«, heißt es vom Bundesverband. Es seien auch Gegendemonstrantinnen und -demonstranten angegriffen, bedroht und beleidigt worden. Rechnerisch waren das im vergangenen Jahr 35 antisemitische Versammlungen pro Woche, 2023 waren es noch 16.
Mehr Vorfälle an Hochschulen und Schulen
Im vergangenen Jahr sei es zudem in Bildungseinrichtungen häufiger zu antisemitischen Vorfällen gekommen. An Hochschulen stieg ihre Zahl von 151 auf 450 – eine Verdreifachung zum Vorjahr, wie Rias berichtet. Neben Protestcamps, in denen antisemitische Stereotype verbreitet worden seien, seien auch Studierende und Mitarbeitende angegriffen worden. An Schulen seien in 284 Fällen Jüdinnen und Juden ausgegrenzt, beschimpft und für den Krieg in Nahost verantwortlich gemacht worden. In mindestens 19 Fällen wurden Personen angegriffen.
Mit 544 Vorfällen verzeichnete Rias im vergangenen Jahr ebenso die bisher höchste Anzahl antisemitischer Vorfälle mit einem rechtsextremen Hintergrund seit Beginn des bundesweiten Vergleichs 2020. In zwei Dritteln dieser Fälle wurde die Schoa relativiert oder verherrlicht. In Thüringen etwa bedrohte ein AfD-Kommunalpolitiker eine Frau mit den Worten, sie käme »nach Buchenwald«, nachdem sie einen AfD-Infostand vor ihrem Wohnhaus kritisiert hatte.
Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, warnte davor, Jüdinnen und Juden die Schuld am Krieg im Gazastreifen zuzuweisen. »Der Krieg, der nach dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen jetzt stattfindet, dient als Rechtfertigung für viele Menschen, sich antisemitisch zu betätigen«, sagte Klein im ARD-»Morgenmagazin«. Die jüdische Community in Deutschland werde dafür in Kollektivhaftung genommen. Das habe negative Auswirkungen auf ihre Lebensqualität. Klein forderte, mit allen politischen und gesellschaftlichen Mitteln dagegen vorzugehen.
Bei dem Angriff der Hamas auf Israel seien so viele Jüdinnen und Juden gestorben wie seit der Schoa nicht mehr. »Und wir sind in dieser absurden Situation, dass als Reaktion die jüdische Gemeinschaft in Deutschland angegriffen wird«, sagte Klein. Das menschliche Leid im Gazastreifen dürfe nicht außer Acht gelassen werden. Es werde aber als Rechtfertigung genommen, um gegen Israel zu hetzen, kritisierte Klein.
Jüdinnen und Juden in Deutschland hätten keine Möglichkeit, auf die israelische Regierung einzuwirken. Auch diejenigen, die sich nicht für den Nahostkonflikt interessierten, würden in die Rolle eines Nahostexperten gedrängt. »Und das ist ja absolut nicht hinnehmbar«, sagte Klein.