Antisemitismus an Hochschulen: Die Situation ist dramatisch

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Nach meinem Empfinden hatte es schon vor dem 7. Oktober einen Stimmungsumschwung gegeben. Man merkte es an der Reaktion auf die antisemitischen Kunstwerke auf der Documenta. Die wurden zwar öffentlich verurteilt, aber Teile des Kunstbetriebs waren für die Kritik unempfänglich, und das Publikum scheint sich kaum dafür interessiert zu haben. Die Documenta war ja ein Besuchererfolg. Mein Engagement begann aber schon 2018. Die Kuwait Airways hatte damals israelische Staatsbürger von ihren Flügen ausgeschlossen, und ein deutsches Gericht hatte das letztinstanzlich bestätigt, obwohl es aus verschiedenen Gründen ein klarer Bruch mit dem deutschen Recht war. Das hat mich damals sehr bewegt: Wie kann es sein, dass ein Richter eine so klare Ungleichbehandlung nicht erkennt? Das hat mich dazu veranlasst, Kurse an der Universität zu geben, um das Grundverständnis der Studenten für den relevanten Sachverhalt zu verbessern, zu sehen, woher diese Denkstrukturen rühren und wie sie im Bildungssystem verankert sind.

Das Netzwerk beklagt, viele jüdische Hochschulmitglieder würden sich aus Angst vor Anfeindungen nicht mehr auf den Campus wagen und ihre jüdische Identität verbergen. Wie hat sich Ihr Verhalten verändert?

Ich bin vorsichtiger geworden, viel, viel vorsichtiger. Ich würde auf dem Campus nicht mehr zeigen, dass ich jüdisch bin, außer vielleicht in einer kleinen Gruppe. Ich erlebe auch, dass man bestimmte Dinge nicht mehr wie früher sagen kann; oder es wird einem gesagt, dass man bestimmte Dinge nicht beurteilen könne, weil man jüdisch sei und deshalb nicht neutral sein könne. Ein großes Thema sind Ausladungen oder das Ausbleiben von Einladungen, die man sonst immer bekommen hat. Es kommt vor, dass Redner zu jüdischen Themen gebeten werden, die Universität durch die Hintertür zu betreten, damit es zu keiner Konfrontation mit Aktivisten kommt. Manche Kollegen sind auf Onlinelehre umgestiegen, um Anfeindungen und Konfrontationen zu vermeiden. Juden werden so aus dem öffentlichen Raum zurückgedrängt, und manche meinen, das Problem sei damit gelöst. Wir haben gemerkt, dass sich eine Linie verschoben hat und ein Bruch durch die Universitäten geht.

Die Hochschulen haben sich nach dem 7. Oktober klar gegen Antisemitismus positioniert und Maßnahmen angekündigt. Sind den Erklärungen Taten gefolgt?

Unser Eindruck ist, dass die Politik die Gefahr klar erkannt hat und uns zuhört. Wir sind sehr dankbar für die klaren Worte. Ich sehe nicht immer, dass ihnen klare Handlungen folgen. Dass hängt wohl damit zusammen, dass es in Teilen der Wissenschaft eine starke Tendenz gibt, bestimmte Formen des Antisemitismus zu ignorieren oder zu leugnen, die gerade an den Hochschulen stark ausgeprägt sind. Hier gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Recht und Politik.

Orna von Fürstenberg ist Vorstandsmitglied des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz.Orna von Fürstenberg ist Vorstandsmitglied des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz.Jasper Hill

Sind die deutschen Hochschulen Brennpunkte des Antisemitismus, oder betrifft es nur einige wenige Universitäten, wie manche behaupten?

Es betrifft nicht alle Hochschulen in gleicher Weise. Nach den uns vorliegenden Hinweisen gehen die Anfeindungen aber deutlich über die Handvoll Universitäten hinaus, die im Rampenlicht standen.

Nach einer Studie der Universität Konstanz haben acht Prozent der Studenten antisemitische Einstellungen, was rund zehn Prozent unter dem gesellschaftlichen Mittel liegt. Beschränkt sich der Protest auf einen kleinen Kreis von Aktivisten?

Das Problem ist, dass diese Studie, auf die sich nun manche berufen, den israelbezogenen Antisemitismus nicht angemessen berücksichtigt. Dieser betrifft wiederum nicht nur die Studentenschaft, sondern auch Wissenschaftler. Es gibt eine breite Tendenz, Antisemitismus zu tolerieren, solange er über den Umweg der sogenannten Israelkritik ausgedrückt wird. Wir haben das gesehen an dem Protestbrief von Wissenschaftlern, die gegen die Räumung des Protestlagers an der FU Berlin protestiert haben, obwohl es dort klar zu antisemitischen und gewaltverherrlichenden Äußerungen gekommen war.

Die Antisemitismusforschung ist über den israelbezogenen Antisemitismus selbst gespalten. Teile von ihr wollen die IHRA-Definition, auf die sich die deutschen Hochschulen verpflichtet haben, durch die Jerusalemer Definition ersetzen. Die IHRA-Definition verurteilt Doppelstandards gegenüber Israel als antisemitisch. Die Jerusalemer Definition löst Antisemitismus weitgehend von der sogenannten Israelkritik. Auch die Boykotte gegen Israel durch die BDS-Bewegung wären ihr zufolge nicht per se antisemitisch. Wie beurteilen Sie das?

Ich denke nicht, dass die IHRA-Definition das Allheilmittel ist, aber sie macht es zumindest möglich, Formen des Antisemitismus zu erfassen, denen wir im täglichen Leben begegnen. Wenn man sich auf die Jerusalemer Definition einließe, wären ganz viele Dinge abgeschnitten, die in der Realität stattfinden. Sie würde potentiell eher eine Parole wie „From the River to the Sea“ legitimieren, die Israel das Existenzrecht abspricht und auf die Vernichtung jüdischen Lebens abzielt.

Wo hört Kritik auf und fängt Hass an? Propalästinensischer Protestes an der Technischen Universität (TU) in BerlinWo hört Kritik auf und fängt Hass an? Propalästinensischer Protestes an der Technischen Universität (TU) in Berlindpa

Von welcher Form des Antisemitismus fühlen Sie sich an den Hochschulen am stärksten bedroht?

Das ist besonders der islamistische Antisemitismus, der trifft uns körperlich. Der israelbezogene Antisemitismus wirkt subtiler, ist aber sehr ausgeprägt. Den rechtsextremen Antisemitismus erleben wir an der Hochschule weniger direkt, obwohl er gesamtgesellschaftlich sehr gefährlich ist und wir uns über die AfD keine Illusionen machen. Wenn sie an die Macht kommt, wird es katastrophal für uns. An den Hochschulen haben wir es aber mit einem anderen Kräfteverhältnis zu tun.

Kommen wir zu den antiisraelischen Protesten selbst. Von wem werden sie getragen? Haben Sie Einblick in die Hintergründe?

Wir sehen, dass die antiisraelischen Proteste von immer wiederkehrenden, vor allem politisch motivierten, professionell organisierten außeruniversitären Akteuren getragen werden. Diese Akteure sind in der Form von Netzwerken untereinander verbunden und rechtlich sehr gut beraten. Sie sind innerhalb der Universität zum Beispiel bei den Protesten, im Rahmen von Podiumsdiskussionen oder bei der Verteilung von Flyern aktiv. Darüber hinaus nutzen sie jedoch auch ganz ­gezielt verschiedenste soziale Medien, wie Instagram oder Whatsapp, um ihre mit Propaganda, Verschwörungstheorien, Hass und Hetze aufgeladene Weltanschauung zu platzieren. Die hinter den Protesten agierenden Akteure kennen die rechtlichen Grenzen und Schwachstellen der freiheitlich demokratischen Gesellschaft beziehungsweise der deutschen Rechtsordnung und nutzen diese gezielt für ihre Zwecke aus. Jegliche Romantisierung der Proteste und der damit verbundenen Aktivitäten ist fehl am Platz.

Haben Sie versucht, mit Aktivisten ins Gespräch zu kommen?

Da hätte ich viel zu viel Angst. In meinen Kursen an der Universität spreche ich mit jedem, der kommt. Aber ich rechne nicht damit, dass mit den Demonstranten ein ruhiges und sachliches Gespräch möglich wäre. Wir haben an den Berliner Universitäten gesehen, wie aggressiv sie vorgehen und welche Schäden sie angerichtet haben. Sie wollen keinen Meinungsaustausch, sie wollen nur, dass man ihnen zustimmt, sonst schreien sie einen nieder. Das ist keine Basis für den Dialog.

Die Universitätsleitungen sagen, Sie seien gezwungen, die Proteste zuzulassen, solange es nicht zu Rechtsverstößen kommt.

Die Frage ist immer, was für einen Charakter so eine Veranstaltung hat. Wird dort eine politische Meinung zum Ausdruck gebracht, die Basis für eine Diskussion sein kann, oder werden nur Hass und Hetze verbreitet? Oft gehen dem Protest Hetzkampagnen im Internet voraus, die auf den Charakter der Demonstration schließen lassen, wie kürzlich im Fall unseres Netzwerkmitglieds Julia Bernstein. Daraus kann man seine Schlüsse ziehen. Die zweite Frage ist, ob das Fraport-Urteil, mit dem die Pflicht zur Duldung der Demonstrationen und Protestlager begründet wird, auf Hochschulen übertragbar ist. Eine Universität ist sicher ein anderer Ort als ein Flughafen.

Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden, um Juden wieder ein sicheres Gefühl auf dem Campus zu geben?

Wichtig sind Anlaufstellen. Ich meine damit Orte, die über das jüdische Leben in Deutschland so aufklären, dass man es als Bereicherung erleben kann. Das andere ist Aufklärung über den Nahostkonflikt. Viele Einwanderer kommen aus Ländern, in denen Antisemitismus zur Alltagskultur gehört und von staatlichen Stellen verbreitet wird, wie in Syrien. Hier ist mit Aufklärung viel zu erreichen. Bildung allein wird das Problem aber nicht lösen. Wir brauchen positive Erlebnisse. Antisemitismus ist zwar oft irrational. Die Begegnung zwischen Menschen kann ihn aber in manchen Fällen doch überwinden. Daran glaube ich fest.

Sollte es eine Antisemitismusklausel in Förderanträgen geben, wie in der Politik diskutiert wird?

Ich finde es sehr wichtig, dass die Politik etwas tut zum Schutz des jüdischen Lebens in Deutschland. Rechtlich ist das sicher schwer umzusetzen, und ich sehe die Schwachstellen des vorliegenden Entwurfs, aber die Situation ist so dramatisch, dass wir zwingend etwas tun müssen. Das ist alternativlos.

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