Zum Tod von Reinhard Brandt: Nicht ganz ohne Lust an der Provokation

vor 22 Stunden 1

Reinhard Brandt war so etwas wie ein klassischer Gelehrter im besten Sinne des Wortes. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildete die europäische Philosophie der Aufklärung: Locke, Hume, Rousseau und natürlich und vor allem Kant. Brandt begriff diese Autoren immer auch in neuzeitlichem und antikem geistesgeschichtlichen Kontext. Die kantische Urteilstafel interpretierte er vor dem Hintergrund der Urteilslehre von Aristoteles, die modernen Theorien des Erhabenen mit Bezug auf die Schrift des Pseudo-Longinus zu diesem Thema; zudem bildete die platonische Philosophie stets einen wichtigen Bezugspunkt seines Denkens.

Hinzu kamen Arbeiten zu ästhetischen Problemen sowie zu Querverbindungen der Philosophie zu kunst- oder literaturgeschichtlichen Themen. Detektivisches Gespür zeigte Brandt bei der Dechiffrierung versteckter Aussagen etwa in Raffaels „Schule von Athen“, in Poussins „Et in Arcadia Ego“ oder in den Titelvignetten von Nietzsches „Geburt der Tragödie“ und Hobbes’ „Leviathan“. Frucht dieser detektivischen Arbeiten war schließlich eine großartige Monographie zur „Philosophie in Bildern“.

Klar zugeschnittene Thesen

Die Rolle des Gelehrten war schon damit recht großzügig interpretiert. Doch vor allem in jüngerer Zeit ging Brandt noch ein paar Schritte weiter, um Stellung zu aktuellen und umstrittenen Themen zu nehmen. Scharfsinnig und ohne Angst vor klaren Thesen äußerte er sich zur Diskussion über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren ebenso wie auf bildungspolitischem Terrain zur Einführung stärker verschulter Bachelor- und Masterstudiengänge.

Häufig wird eine solche Breite der Interessen erkauft mit einem Mangel an argumentativer Strenge oder einer Nonchalance gegenüber dem wissenschaftlichen Detail. Brandt dagegen wusste beides zusammenzubringen: die Genauigkeit im Einzelnen mit der großen Perspektive, hinzu kam ein von frappantem Wissen gestütztes Interesse an historischen Details, wie es etwa in seinen Kommentaren zur Kantischen Anthropologie sichtbar wird.

Ein überzeugter Marburger

Brandt neigte nicht dazu, mit seinen eigenen Auffassungen hinter dem Berg zu halten. Seine Positionen waren immer bestens begründet, aber zuweilen ironisch und mit einer gewissen Lust an der Provokation formuliert. Er liebte kontroverse Diskussionen, sein hintergründiger Humor schütze ihn selbst und seine Diskussionspartner dabei gegen persönliche Schärfe.

Die Universität als Institution hat er respektiert, den akademischen Betrieb mit seinen Moden, Eitelkeiten und Eifersüchteleien aber auf Abstand gehalten. So hat er sich auch niemals bemüht, sich von seiner Professur in Marburg, die er seit 1972 innehatte, auf eine prestigeträchtigere Stelle zu bewerben. Gelegenheiten dazu hätte es gegeben. Einer Universität, die ihn auf einen wesentlich besser ausgestatteten Lehrstuhl berufen hatte, gab er am Tag nach der Vertragsunterzeichnung noch einen Korb: Auf der Zugfahrt von seinem neuen Wirkungsort zurück nach Marburg überzeugte ihn seine aus Italien stammende Ehefrau, dass Marburg der einzige Ort nördlich der Alpen sei, an dem man leben könne. Ihm wurde damit klar, dass er für die Fahrt zur Universität nun sein stadtbekanntes Fahrrad gegen den Zug würde tauschen müssen, auch die täglichen Fahrradfahrten zu einem Baggersee in der Nähe von Marburg wären nicht mehr möglich gewesen. Die Absage war damit unvermeidlich.

Beim Radfahren ging er zuweilen auch etwas freizügiger mit den von ihm ansonsten hochgehaltenen rechtlichen Regeln um – eine Streife entdeckte ihn freihändig fahrend auf der Autobahn; doch seine rhetorische Brillanz überzeugte sogar die oberhessische Polizei. Selbst ein Täuschungsversuch – der einzige – ist in diesem Zusammenhang überliefert. Nachdem er auch den Zweitschlüssel verloren hatte, wurde sein Fahrradschloss nur noch unabgeschlossen zusammengesteckt. Ob der Versuch erfolgreich war, ist nicht so ganz klar. Angeblich haben die Marburger Fahrraddiebe den Trick durchschaut, aber sein Rad aus Respekt verschont. Am vergangenen Sonntag ist Reinhard Brandt nach längerer Krankheit im Alter von 88 Jahren in Marburg verstorben.

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