Wer sich an die Neunzigerjahre erinnert, hat sie nicht erlebt, heißt es. Das notorisch kurze kulturelle Gedächtnis verbindet das Jahrzehnt nicht mit den Kriegen in Tschetschenien und Bosnien und dem Massaker von Srebenica, sondern mit Hedonismus, sexy Schulmädchenposen (Britney Spears), der deutschen Antwort auf MTV, dem Musiksender Viva, ewiger Pubertätslaune, nichtssagenden oder erniedrigenden Texten („It’s My Life“, „I’m Too Sexy“), Boybands, Girlgroups und Eurodance. Die Anhänger von DJ Bobo, Dr. Alban oder Mr. President erlebten, wie Schlichtheit als Rezept zum Megaerfolg führt. Wer so simpel für Stimmung sorgte, hatte das egalitäre Potential, alle mitzureißen. Und nach dem Ende des Hypes von allen, die etwas auf sich hielten, gehasst zu werden.
Es muss etwas dran sein an Eurodance, sonst wären Neunziger-Revival-Parties weniger beliebt, sonst würden längst ins Bürgerliche zurückgekehrte Künstler nicht immer wieder aus der Versenkung geholt. Oder beim Versuch beobachtet, sich selbst am Schopf aus der Bedeutungslosigkeit zu ziehen. Namen zu nennen wäre gemein. Das besorgt schon Thomas Janowski alias „Messiah“ (Florian Lukas) in der Joyn-Mockumentary „Messiah Superstar“ zur Genüge. In den Neunzigern war Messiah kurzzeitig ein Star als Two-Hit-Wonder („Ecstasy“ und „Sexy Sex“), wurden seine Videos rauf- und runtergespielt, etwa das, wo er so gut wie nackt auf einem Thron sitzt und auf allen Vieren kniende, ebenfalls kaum bekleidete Frauen an Hundeleinen hält. Thomas Janowski aka Messiah konnte nicht singen, tanzen, performen, war ein Kotzbrocken und ständig zugekokst, aber er hielt sich für den Größten, und die Fans gaben ihm kurz mal recht.
Das Selbstüberschätzen ist dem Jungen aus Ostberlin geblieben. Wie Tausende Dosen Sexy-Banana-Energy-Drink mit seinem Konterfei und anderer unverkäuflicher Merch, wie die Verachtung der damaligen Kollegen und das „Erlebnisgastronomie“-Restaurant „Esstasy“ in einer Ostberliner Platte, samt trostlosem Beach Klub auf der Tiefgarage.
Das Interessanteste an Thomas Janowski ist sein inneres Stehaufmännchen. Trotz Absturz und lichtem Haar hält er sich immer noch für Gottes Geschenk an die Menschheit. Seit sich eine (fiktive) Dokumentarfilmcrew für Messiah interessiert, plant er sein Comeback. Eine neue Single, massive Social-Media-Präsenz. Sein Manager, der Tontechniker Leon Pohl (Jonas Nay) soll ihn der jungen Zielgruppe vermitteln, das Restaurant überlässt er Mutter Bettina (Johanna Gastdorf), der es ohnehin gehört, und den Küchenhilfen Nadine Moradi (Banafshe Houmazdi) und Arif Hemidi (Lukas von Horbatschew), der alle mit seinen neoliberalen Ansichten nervt, besonders die angeblichen Dokumentarfilmer. Bettina hat gerade Christian (Tristan Seith) auf einer Datingplattform kennengelernt, Nadine will ihr Studium beenden, Leon ist abgelenkt, weil verliebt in Nadine. Schlimmer noch, Thomas’ neuer Song „Back Sexy“ klingt nicht nur genau wie „Sexy Sex“, jetzt funkt ihm Oli P. mit seiner Coverversion von „Back for Good“ (Take That) dazwischen, selbst im Sat.1-Frühstücksfernsehen. Wie der jahrzehntewährende Beef zwischen Oli P. und Messiah entstand, soll die Zuschauer der Mockumentary „Messiah Superstar“ über acht Folgen hinweg interessieren.
Der Unterhaltungswert könnte größer sein. Die nach einer israelischen Originalserie von Felix Stienz (Regie) und Sebastian Colley (Buch) gedrehte fiktive Doku hat aber Meriten. Vor allem wenn Messiahs Geschwätz, die musikalische Oberflächlichkeit und die Posen des Eurodance Parallelen zur Aktualität zulassen. Selbstüberschätzung, mag sie noch so absurd aussehen, hat Konjunktur. Florian Lukas, der zuletzt als Hans Rosenthal in ernster Rolle glänzte, hebt hier ein mittelmäßiges Drehbuch und eine Inszenierung mit Längen und angegammeltem Nostalgie-Humor auf satirische Höhen. Generell adeln die Darsteller wie Gastdorf, Nay und Houmazdi diese Mockumentary. Lustig wird es, wenn Gäste wie Marc Terenzi (mit dem Messiah einen Werbespot für Ü-50-Nahrungsergänzungsmittel dreht) oder Sabrina Setlur (die sich ein zweites Standbein als Staubsaugerverkäuferin aufgebaut hat) sich selbst und ihre Neunziger-Personality gekonnt auf die Schippe nehmen.
Das Genre fiktive Doku („Mockumentary“) hat man allerdings schon gelungener bespielt gesehen, ob in David Schalkos Fußball-Alternativsaga „Das Wunder von Wien oder Wir sind Europameister“ (1998), mit „Fraktus“ von Lars Jessen über die gleichnamigen angeblichen Erfinder der elektronischen Musik, in Olli Dittrichs Doppelgängerfilm „Schorsch Aigner – Der Mann, der Franz Beckenbauer war“, bei Anke Engelke und Bastian Pastewka als Volksmusikduo „Wolfgang & Anneliese“, „Stromberg“ und Banksys „Exit Through the Gift Shop“. „Messiah Superstar“ ist in diesem Kontext der Eurodance-Vertreter: großer Bühnenaufriss, Kostüme zum Schreien, vorhersehbare Choreo, Schein als Sein, und am Ende auch ein wenig unfreiwillig rührend.
Messiah Superstar läuft bei Joyn.