In der letzten von den zahllosen Lyrik-Rezensionen, die er für diese Zeitung geschrieben hat, beschäftigte sich Harald Hartung mit dem Zusammenklang von innerer Stimme und dem Gewicht der Welt. Da er selbst dichtete, wusste er nur zu gut, wovon er sprach, wenn er Kollegen Neugier aufs aktuelle Geschehen anempfahl, zugleich aber darauf bestand, dass es auch eine lyrische Notwendigkeit für das geben musste, was dann darüber zu Papier gebracht wird. Und dazu kam noch die Kompetenz des Literaturwissenschaftlers, der von 1971 bis 1998 einen Lehrstuhl an der Technischen Universität Berlin bekleidete und sich dort bevorzugt experimenteller Literatur widmete – deutscher wie internationaler Provenienz.
Als erster Akademiker seiner Familie setzte der 1932 geborene Hartung mit der Intensität seiner Beschäftigungen jenes Arbeitsethos fort, das er vom Vater übernommen hatte, einem Bergmann im Ruhrgebiet. Tiefschürfend waren Hartungs Texte immer. Kein Wunder, dass er 1974 zu der Gruppe neuer Rezensenten zählte, die Marcel Reich-Ranicki nach dem Antritt als Literaturchef der F.A.Z. für die Mitarbeit am Literaturblatt der Zeitung gewann.
Er hat sich immer vorrangig als Dichter empfunden
Es folgte auch gleich die Aufnahme eines Gedichts von Hartung („Das Paar“ aus dem im selben Jahr erschienenen Band „Reichsbahngelände“) in die damals gerade neu eingerichtete „Frankfurter Anthologie“, und nach zehnjähriger Zusammenarbeit bekam Hartung ein Lob zugeschickt, wie man es in Reich-Ranickis Korrespondenzen selten liest: „Ohne Ihre Manuskripte ist unser ganzer Literaturteil schlapp und reizlos.“ Danach handelten auch alle seine Nachfolger, so dass Hartung bis ins neunzigste Lebensjahr ständiger Rezensent blieb und auch immer wieder interpretierender Beiträger zur „Frankfurter Anthologie“. Niemand sonst aus der anfänglichen Reich-Ranicki-Kritikerriege war der Zeitung so lange als Aktiver treu. Und sie ihm.
Hartungs Aktivitäten waren aber noch breiter gefächert. Nicht nur, dass er gemeinsam mit seiner Frau Freia ein begeisterter Bergwanderer war, er leitete auch mehrere Jahre lang das Literarische Colloquium Berlin, und die Zahl der von ihm verfassten und herausgegebenen Bücher stieg nach der Emeritierung noch einmal an: Zuletzt kam 2023 bei Wallstein der Aufzeichnungsband „Provisorische Schlüsse“ heraus – ein paradoxer Titel angesichts der Sicherheit des Urteils und der Präzision des lyrischen Schaffens.
Da Harald Hartung sich ungeachtet seiner reichhaltigen wissenschaftlichen und rezensorischen Tätigkeit immer vorrangig als Dichter empfunden hat, sei im Angedenken an diesen am vergangenen Samstag im Alter von 92 Jahren nach längerer Krankheit gestorbenen wunderbaren Autor sein Debütgedicht aus der „Frankfurter Anthologie“ noch einmal abgedruckt: „Das Paar / das Hand in Hand über / die Wiese hüpft und nicht / still sein kann weil / es sich Zigaretten / anzündet auf dem / federnden grünen / Trampolin / ist glücklich solang / Musik zu hören ist. / Draußen in den Anlagen / das Grün ist schwarz. / In der Stille riecht / man den Tod. / Er ist die Musik / die man nicht mehr / hört.“ Harald Hartungs innere Stimme jedoch wird uns bleiben.