Zum Tod des Autors Ingvar Ambjørnsen: Nikotin und Alkohol dienten ihm als Schutzausrüstung

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Eines Tages Ende der Nullerjahre wartete ich am Dammtor auf den Zug. Da tauchten zufällig Ingvar und Gabriele aus dem Treppenschacht auf. Ich erschrak, als Ingvar minutenlang heftig giemend nach Luft zu schnappen begann. Seine Miene drückte Panik davor aus zu ersticken. Seine Haltung signalisierte: Es hört gleich wieder auf. In seiner norwegischen Heimat in einem Atemzug mit Autoren wie Karl Ove Knausgård, Jan Fosse oder Erik Fosnes Hansen genannt, zog Ingvar Ambjørnsen 1985 nach Hamburg und blieb vierzig Jahre, verheiratet mit der deutschen Autorin und Übersetzerin Gabriele Haefs.

Als wir uns Ende der Achtziger in Eimsbüttel kennenlernten, hatte ich noch nicht einmal debütiert, während er schon etliche starke Bücher auf dem Kerbholz hatte. Den Durchbruch erzielte er mit „Hvite Nigger“. (Damals wurde das N-Wort noch entschieden als emanzipatorisches Geusenwort aufgefasst.)

Aus der Gegenkultur der Siebziger

Dies war in Buch, das einen Literaten vom Kaliber Klaus Modicks an Hamsun erinnerte. Ein lebenssatter, witziger, autobiographisch gefärbter Coming-of-Age-Roman mit typischen Protagonisten aus der Gegenkultur der Siebziger, jene „Lebenshungrigen, die alles aufsaugen, was ihren Hunger zu stillen verspricht: Literatur, Ideologie, Religion, Haschisch, Amphetamin, Heroin, Sperma und Alkohol; vor allem Alkohol“ (so die „taz“).

Ja, die Rolle, die fossile Brennstoffe für die Wirtschaftsbosse spielten, spielten für uns späthippi­eske Schriftsteller in der Nachfolge von Burroughs, Kerouac, Hunter S. Thompson, Bukowski, Henry Miller. Ingvar war Nikotin-Junkie. Ihm gelang es ein paar Jahre vor mir, das „Laster“ aufzugeben. Zu der Zeit sah man ihn oft strammen Schrittes Eimsbüttel durchwandern. Eine knifflige Diagnose erwischte ihn fünf Jahre später. Entsetzt rannte auch ich zum Lungenfacharzt.

Ohne Gegengifte ging da gar nichts

Es ging nicht nur um trivialen Hedonismus. Auch nicht nur um Sucht. Und ohne das alles bohèmistisch überhöhen zu wollen – ich glaube, es handelte sich schlicht um Utensilien der Arbeits- und Schutzausrüstung, mit der wir unserer nervenaufreibenden Berufung folgten. Ingvar griff zu einem Großteil auf Erfahrungen aus der Feldforschung zurück, zumindest der frühe und mittlere Ambjørnsen.

Seine Bücher sind welthaltig in höchster Konzentration, krude, in die Fresse und doch feinstkörnig empfunden und beobachtet, und so manches Milieu, in dem seine schnellen, lakonischen Thriller wie „San Sebastian Blues“ (Norwegen–Spanien), „Stalins Augen“ (Oslo–Hamburg–Ost-Berlin) oder „Die me­chanische Frau“ (Hamburg-St. Georg) spielen, hat er sich mittels Anschauung erarbeitet. Einer meiner Favoriten ist das essayistische „Goldene Vakuum“; ich kenne kein Buch, in dem Panikattacken und Angststörungen eindringlicher beschrieben werden. Ohne Gegengifte ging da gar nichts.

Feierabende in Spelunken

Ingvar war kein Schönwetterautor. Seit einer abgebrochenen Gärtnerlehre hatte er seine „informelle Ausbildung zum Schriftsteller“ in den Psychiatrien und Mc-Industrien des Landes absolviert und den Feierabend in dessen Spelunken. Starker Tobak, der in den heutigen Instituten für literarisches Schreiben kaum noch wächst. Seit wir uns erstmals begegneten, sprachen wir übers Schreiben. Rauchten und tranken um die Wette (er gewann). Von Beginn an verkörperte Ingvar einen jener integren, unprätentiösen Charak­tere, die zum sporadischen Saufkumpan, Mentor, Bruder taugten. Eben auch und gerade, als er in die Identitätskrise geriet.

„Ich hab keinen Bock mehr, mein Image zu bedienen“, klagte er Mitte der Neunziger. Mittlerweile war Elling ihm erschienen, gegenüber von seinem Arbeitszimmer, eine verlorene Silhouette in einem der tausend Fenster der sogenannten Grindelhochhäuser. Sein deutscher Verlag Edition Nautilus fremdelte mit dem neuen Stil und Sujet: Ein schräger, soziophober, weicher 32-jähriger Frührentner und Spinner sollte der neue Held des taffen Undergroundpoeten werden? Da gab’s Knatsch.

Ingvar ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. Ein Risiko, das mancher gescheut hätte. Er bewies, dass sein Impuls zu schreiben alle Sujets, Milieus und Sozialtypen betrifft, die unwiderleglich der Fall sind. Die hin- und herzzerreißende, höchst tragikomische Elling-Tetralogie wurde zu Recht ein weltweiter Erfolg – mit Theateradaptionen von Argentinien bis Australien, von Finnland bis Mexiko. 2002 wurde die Verfilmung für einen Auslands-Oscar nominiert. Doch wäre er nicht Ingvar Ambjørnsen gewesen, hätte er das Schreiben danach aufgegeben. Es war wie Atmen für ihn. Am Wochenende ist er, mit nicht ganz 70 Jahren, gestorben. Fahr wohl, Ingvar.

Von Frank Schulz erschien zuletzt der Roman „Amor gegen Goliath“ (2024).

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