Herbert Kapfer ist ein brillanter Wirrkopf, die Wirklichkeit verpackt er in eine Welt bekannter und unbekannter Bücher, meist sind die Autorinnen und Autoren längst tot, viele ihrer Werke längst vergriffen. Aber Kapfer spürt sie auf, erweckt sie zu neuem Leben und verknüpft Vergangenheit und Gegenwart in einem collageartigen Kosmos zu einem feingesponnenen Konstrukt der Ideengeschichte. So sind seine großen Veröffentlichungen „1919. Fiktion“ und „Utop“ gebaut. Und nun hat er einen veritablen Roman vorgelegt, der eine Geschichte mit Handlung erzählt: „Der Planet diskreter Liebe“. Der Autor ist persönlich anwesend, nicht nur durch ein Netz von Literaturzitaten präsent.
Es geht um die Studentenbewegung, um das Geflecht ideeller, persönlicher und politischer Gedanken und Lebensentwürfe. Kapfer, Jahrgang 1954, war damals noch ein Schüler, aber, so erklärt er in einem Interview, „mich haben diese Lebensexperimente, Projekte, Kommunen-Ideen interessiert und berührt“. Das Experiment hat immer seine Faszination gelockt und angeregt. Als Hörspielleiter bis 2017 beim Bayerischen Rundfunk verwandelte er die Redaktion in ein Ressort „Hörspiel und Medienkunst“, transmediale Performances unter anderem mit Elfriede Jelinek, Ulrike Ottinger oder Herta Müller entfesselten seine Leidenschaft für eine andere Ästhetik der Wahrnehmung.

Im Roman geht es um das Jahr 1975 in der Münchner Kommune „kollektiv 7“. Vorbild ist die Berliner Kommune 2, die das vermiefte Leben der bürgerlichen Kleinfamilie revolutionieren wollte. Im Mittelpunkt stehen Bea und Kai, beide Anfang zwanzig, sie aus wohlsituiertem Akademikerhaushalt, er ein Schulabbrecher und Ausreißer. Beide haben ihre literarischen Vorbilder und Leitfiguren. Für Kai ist es der Bürgerschreck und poetische Rebell Rolf Dieter Brinkmann, für Bea steht die radikale Frauenrechtlerin Françoise d’Eaubonne mit ihrem Ökofeminismus im Zentrum des Denkens und Handelns. Eine aparte Mischung. Im Gegensatz zu den Zielen des Gesamtkollektivs kapseln sich die beiden als Liebespaar ab und gehen eigene Wege. Die traditionellen Geschlechterrollen werden vertauscht: Bea ist die Königin, Kai der Liebessklave, der sich ihr zu unterwerfen hat.
Williger Liebhaber ohne Ahnung vom Feminismus
Kai ist willig, hat aber keine Ahnung vom Feminismus, denn er ist zu stark in Brinkmann verstrickt. Also wird er von Bea aufgeklärt, worum es geht: „Ich überlege, wie wir den Frauen aus allen Schichten in einfacher Sprache die Idee des ökologischen Feminismus vermitteln können: dass wir die Mehrheit auf diesem Planeten stellen und deshalb mächtig sind. Dass es Männer sind, die uns einen geplünderten Planeten hinterlassen. Kaputte Wälder, verseuchte Flüsse, verrottete Städte, Hungersnöte, Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Krieg und Terror. Nur Frauen können den Planeten retten. Dies wird nur mehr von denen bestritten, die an der Macht kleben oder so dumm sind, dass sie den Frauen nicht einmal das Wasser reichen können. Darauf kann die neue feministische Macht keine Rücksicht nehmen. Es ist wirklich schade, dass du keine Frau bist! Du würdet mit uns auf der Seite der Siegerinnen stehen und den Triumph des weiblichen Geschlechts erleben. Der Planet in unseren Händen wird ein völlig anderer werden.“
Pech für Kai. Er darf an Beas Ohr knabbern, ihre Füße liebkosen, sein Geschlecht aber darf sich nicht erheben, sondern wird von ihr niedergedrückt; als es zu einer unfreiwilligen Ejakulation kommt, ist Bea hellauf empört, „genitale Sexualität ist überholt“. Wie viel Ironie, vielleicht auch Satire, in diesen Schilderungen steckt, bleibt unklar. Bea meint es bitterernst, der Autor wohl auch oder hält sich bedeckt, Leser und Leserin haben die freie Wahl. Meisterlich beschreibt Kapfer die erotischen Annäherungsversuche von Kai, der im Roman dann Sami genannt wird, wenn er unterwürfig ist und sich in seine neue Rolle fügt.
An die Leine? Das dann doch lieber nicht
Nichts funktioniert bei diesem Autor ohne die Literatur. Sieben Bücher verordnet Bea ihrem Liebesdiener, die er als Pflichtlektüre zu studieren hat, um ihrer würdig zu sein, angefangen bei Simone de Beauvoir über Kate Millett, Valerie Solanas bis hin zu Roland Barthes. Sami beugt sich gehorsam. Nur einmal rebelliert er, nämlich als Bea ein neues Projekt entwirft: Aus Empörung über den sexistischen Film „Die Geschichte der O.“ will sie wie einst die Künstlerin Valie Export, auch eine Ikone von Bea, die 1968 Peter Weibel, den späteren Direktor des Zentrums für Kunst Medien (ZKM), mitten in Wien als Hund an der Leine auf der Straße ausführte, nun Sami im Kino angeleinte auf der Filmbühne spazieren führen. Jetzt sagt Kai einmal „Nein“, seine Unterwerfung gelte nur im geschlossenen Raum des Zimmers, nicht aber in der Öffentlichkeit.
Das Kommune-Kollektiv gerät in Unordnung, die Koordinaten stimmen nicht mehr, die Frage steht im Raum, ob man sich auflösen soll. Ein überraschender Polizeiüberfall rettet die Gemeinschaft: Alle werden festgenommen, auf die Wache gebracht, verhört und wieder freigelassen, weil in der Wohngemeinschaft nichts Verdächtiges gefunden wurde. Bea und Sami machen sich auf zu einer Dienstreise ostwärts, nach Wien. Kai liest im Zug die Gedichte seines Idols Brinkmann, Bea beschäftigt sich mit Leopold von Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“. In Wien wollen sie bei einer Freundin nächtigen. Für Kai/Sami ist das Dienstbotenzimmer, eine winzige Kammer mit Bett und Tisch, reserviert, Bea wird bei ihrer Freundin Lisa ins Bett schlüpfen. Auf die Frage, ob Kai das akzeptieren könne, antwortet die Herrin Bea herablassend: „Er ist meistens unterwegs. Mit Rechercheaufträgen und Listen vergriffener Bücher, die ich suche.“
Herbert Kapfer: „Der Planet diskreter Liebe“. Roman.
Antje Kunstmann Verlag, München 2025. 202 S., br., 22,– €.