Es geht in der neuen Ausstellung des Literaturmuseums, einer Zweigstelle der Österreichischen Nationalbibliothek, bewusst nicht um Heimat. Diesen notorisch unzuverlässigen und politisch instrumentalisierten Begriff vermeiden die Kuratoren Cornelius Mitterer und Kerstin Putz, zudem beschränken sie sich auf Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, gehen dabei aber frei assoziierend vor – insofern, als keineswegs nur österreichische Autoren verhandelt werden.
Kanonisierte Schriftsteller wie Albert Drach, Hilde Spiel, und H. C. Artmann sind dabei, die Riege der Zeitgenossen vertreten unter anderen Peter Handke, Elfriede Jelinek, Monika Helfer, Maja Haderlap, Arno Geiger und Milena Michiko Flašar. Hinzu gesellen sich „naturalisierte“ Österreicher wie Vladimir Vertlib, Radek Knapp, Fiston Mwanza Mujila, Nava Ebrahimi, Toxische Pommes und Barbi Marković, die teilweise seit Jahrzehnten im Land leben. Und dann gibt es jene, die mit Österreich auf den ersten Blick nichts zu tun haben: Annie Ernaux, Didier Eribon, Lukas Bärfuss, Saša Stanišić, Dinçer Güçyeter, Marlen Hobrack oder Bov Bjerg.

Erster Eindruck, der sich verfestigt: Viele der verhandelten Herkünfte respektive Kindheiten waren nach heutigen Standards von Armut geprägt, zumal jener mit bäuerlichem Hintergrund, wo Kinderarbeit alltäglich war. Noch härter traf es freilich eine Autorin wie die 1932 geborene Wiener Jüdin Elfriede Gerstl, die nur in Verstecken den Nationalsozialismus überleben konnte, oder den fünf Jahren jüngeren Kärntner Slowenen Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück ermordet wurde, als er sieben Jahre alt war. Die Sterbeurkunde, 1954 vom Sonderstandesamt Arolsen ausgestellt, blieb ihm als Erinnerungsstück.
An Beispielen für Armut herrscht kein Mangel. So wird etwa an den heute weithin vergessenen Arbeiterdichter Alfons Petzold erinnert, der 1923 im Alter von vierzig Jahren an TBC starb. Seine Erinnerungen „Das rauhe Leben“ legen Zeugnis ab von einer entbehrungsreichen Kindheit und Jugend. Christine Lavant, neuntes Kind von Kärntner Bergbauern, wuchs in dem Bewusstsein auf, „Schreiben gehört sich nicht für arme Menschen“. Mit Kopftuch, rauchend, ist sie in einem Filminterview zu sehen, am Fuß der Tischleuchte ein Bild des Gekreuzigten. Lavant verhehlt nicht, dass sie anders als ihre Geschwister ist: „Selbstverständlich muss etwas vorhanden sein, sonst würden ja alle schreiben.“

Prekäre Verhältnisse auch im Wiener Gemeindebau, in dem Christine Nöstlinger groß wird. Sie berichtet von einem wiederkehrenden Traum: Der Hausherr vermietet ihr ein Klo, über die Schüssel legt sie ein Brett zum Sitzen, und fertig ist der Rückzugsort als Schreibkämmerchen.
Die Schau in dem altehrwürdigen Bibliotheksraum wirkt wie ein begehbares Fotoalbum, das Erinnerungen an vertraute Kindheitserlebnisse weckt. Sie kombiniert Hörstationen, Filme, Bücher und Textwände mit einer „Galerie der Dinge“. Dazu gehört beispielsweise eine Ken-Puppe, weil der Vater von Toxische Pommes seiner Tochter immer gefälschte Barbie-Puppen schenkte, wie sie in „Ein schönes Ausländerkind“ schreibt (F.A.Z. vom 16. April 2024). Radek Knapp, der als Tennislehrer arbeitete, steuert einen Tennisschläger der Marke Bancroft mit gerissenen Saiten bei, Daniela Dröscher einen Dreschflegel, Lukas Bärfuss einen metallenen Briefkasten – als einem „Tor zur Hölle, niemals Urlaubsgrüße, immer Mahnungen“.
Dem Aufbruch folgt in manchen Fällen eine Wiederkehr – und die geht stets mit der Frage einher, ob sich der Schritt richtig anfühle. Eine Textstelle von Reinhard Kaiser-Mühlecker wirft die Frage auf, „ob er ein anderer geworden wäre in einer anderen Gegend als seiner“. Genau darüber hätte man gern mehr erfahren: Was verrät die Herkunft über die geistige Prägung – Stichwort intellektuelle Geographie. Die Frage, ob Herkunft Halt oder Last ist, kann nur individuell beantwortet werden, und sie ist nicht objektivierbar im Sinn einer allgemeiner gültigen Erkenntnis. Wer tiefer in das Thema eintauchen möchte, ist auf die Lektüre des Begleitbandes verwiesen.

In einem Nebenraum eine Wand mit bunten Zetteln: Die Besucher sollen ihre Herkunft verraten. Originellste Antwort: „Aus dem 19. Jahrhundert.“
Woher wir kommen. Literatur und Herkunft. Im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Bis zum 15. Februar 2026. Der Begleitband (Zsolnay Verlag) kostet 29,90 Euro.