Fatih Akins „Amrum“ beim Filmfest Cannes

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Es bläst in diesen Tagen ein heftiger Wind über Cannes. Am Samstag entwurzelten stürmische Böen eine Palme. Als der Baum fiel, verletzte er einen Filmproduzenten. Das eher sprichwörtliche Unwetter hingegen braut sich in der amerikanischen Fachpresse zusammen, seit bekannt wurde, dass Kevin Spacey in Cannes erwartet wird, um eine Ehrung für sein Lebenswerk entgegenzunehmen.

Obwohl die Auszeichnung im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung stattfinden soll, also nicht Teil des offiziellen Programms ist, könnte der vor zwei Jahren in New York von den Anschuldigungen der sexuellen Belästigung freigesprochene Spacey auch über den roten Teppich laufen. Genug Stoff für Aufregung also, die Spacey aber wohl zumeist als Werbung für sein neues Filmprojekt, den Thriller „The Awakening“, dienen wird.

„Er konnte den Film aber nicht mehr machen“

Durch den Wettbewerb hingegen weht ein frisches Lüftchen, was vor allem den Filmen der jungen Regisseurinnen zu danken ist. Die Japanerin Chie Hayakawa etwa erzählt in ihrem kontemplativen Werk „Renoir“ von einem Mädchen, das mit viel Phantasie zu verarbeiten sucht, dass der Vater an Krebs stirbt. Und die Französin Hafsia Herzi schaut in ihrem Coming-of-Age-Drama „Die jüngste Tochter“ einer lesbischen jungen Frau aus algerischer Familie dabei zu, wie sie sich in Paris ein Leben aufzubauen versucht.

So unaufgeregt, aber teilnahmsvoll wie Herzi auf ihre Protagonistin schaut, macht das auch Fatih Akin in seinem Film „Amrum“, der hier in einer Nebenreihe Premiere feierte. Als Reise in die Tiefen seiner „deutschen Seele“ bezeichnete Akin die Arbeit am Film. Es ist ein untypischer Film für ihn. Im Vorspann heißt es: „Ein Hark-Bohm-Film von Fatih Akin“. Bohm, Akins Freund und filmischer Lehrmeister, wollte seinen gleichnamigen Roman selbst für die Leinwand adap­tieren.

„Er konnte den Film aber nicht mehr machen“, erzählt Akin während der Premiere, also wechselte der Jüngere von der Produzentenrolle in die des Regisseurs, wobei er sich bei der Umsetzung an genaue Notizen seines Freundes hielt, basierend auf dessen Erinnerungen an die Kindheit auf der Nordseeinsel während des Zweiten Weltkriegs. Zwei Jungen ducken sich in die Furchen eines Kartoffelackers, während eine Fliegerstaffel Bomben ins Meer klatschen lässt. Der zwölf Jahre alte Nanning hilft aus auf dem Feld der Bäuerin Tessa; Diane Kruger hat für diese kleine, aber wichtige Rolle den Amrumer Dialekt gelernt. Vorm Feuersturm ist Nannings Mutter hochschwanger auf ihre Heimatinsel geflohen. Nannings Vater kämpft als SS-Mann an der Ostfront.

Als der Junge beim Abendessen fragt, ob der Vater bald nach Hause käme, weil der Krieg ende, wütet die Mutter von „Hochverrat“ und geht Bäuerin Tessa anzeigen, die Nanning beim Blick auf einen Flüchtlingstreck diese Prognose gestellt hat. Dass sie dabei vom „Scheißkrieg“ sprach, verschweigt der Junge.

Wir sehen das Geschehen aus seiner Perspektive. Als die Mutter ihn am Küchentisch verhört, leuchtet Furcht in seinen großen blauen Augen. Soll er die Frau verraten, die hilft, seine Familie zu ernähren? Wem glaubt er, wenn die anderen Inselbewohner ihm Geschichten über seine Familie erzählen, die sich nicht mit der Version der Eltern decken?

Vor allem ist der Sommer auf der Insel aber ein Abenteuer. Um Essen für die Mutter zu besorgen, geht der Junge Hasen jagen. Bei Vollmond schleicht er an den Strand, für Treibholz. Eine Eule fliegt durch die Nacht. Vogelschwärme steigen aus den Dünen. Das Watt blubbert. Akin zeigt Schönheit der Natur ohne Kitsch. Romantik liegt ihm fern. Die deutsche Seele findet er im Ringen mit der Schuld der Nazi-Eltern.

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