Wiederentdeckte Fotografin Marta Astfalck-Vietz: Die Frau als Domino und Domina

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Erst kurz vor ihrem Tod wurde Marta Astfalck-Vietz wiederentdeckt. „Lebensdaten unbekannt“ stand unter zwei Fotos, die 1989 in der Berlinischen Galerie ausgestellt und einer „Marta Vietz“ zugeschrieben wurden. Eine Schülerin erkannte die Aufnahmen und stellte den Kontakt zu der Fotografin her, die seit zwanzig Jahren in Niedersachsen lebte. Zwei Jahre später zeigte die Berlinische Galerie die erste Retro­spektive ihrer Arbeiten. Fast alle stammten aus der Zeit vor 1933. Nach der Machtübernahme Hitlers hatte Marta Astfalck-Vietz mit dem Fotografieren praktisch aufgehört. In der Nachkriegszeit holte sie nur noch Pflanzen vor ihre Kamera. 1994 starb sie in Nienhagen bei Celle.

Sie hielt Kontakt zum politischen Widerstand

Marta Astfalck-Vietz ist ein Sonderfall unter den Fotografinnen der Weimarer Republik. Anders als Marianne Breslauer, Lotte Jacobi, Frieda Riess und Dora Kallmus ging sie nicht ins Exil, und auch das Schicksal der in Sobibor ermordeten Yva blieb ihr erspart. Stattdessen verstummte sie. Sie blieb in Berlin, gab ihren Beruf auf und lebte gemeinsam mit ihrem Mann, einem Architekten, von Aufträgen für Werbe- und Gebrauchsgrafiken. Nebenbei unterrichtete sie jüdische Schüler in Handarbeit und Zeichnen und hielt Kontakt zum politischen Widerstand. Um ihren Bekanntenkreis zu schützen, ließ sie sich zum Luftschutzwart ausbilden. Ihr Gästebuch trug sie stets in einer Tasche bei sich. Wäre es der Gestapo in die Hände gefallen, hätte es sie den Kopf gekostet.

 Ohne Titel, um 1927Verbergen und enthüllen: Ohne Titel, um 1927Berlinische Galerie/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

In der Berlinischen Galerie, die mit ih­rer neuen Ausstellung abermals an Marta Astfalck-Vietz erinnert, sind jetzt einige Seiten des Gästebuchs zu sehen. Sie enthalten Zeichnungen von Frauenköpfen, tanzenden Paaren und Motorradfahrern, aber auch Vieldeutiges wie eine Skizze des Buchstaben H, der sich in Rauch auflöst: „H. verdampft bald! 9.1.34“ steht darunter in Bleistiftschrift. Der Eintrag stammt von Heinz Hajek-Halke, einem engen Freund der Fotografin, der sich wie sie dem Zugriff der Reichskulturkammer entzogen hat und später an den Bodensee, dann sogar nach Brasilien ausweichen wird, um seine Ar­beit mit der Kamera fortsetzen zu können. Eine andere, bereits 1928 entstandene Zeichnung Hajek-Halkes, die nur im Katalog gezeigt wird, stellt Hitlers Kopf als Totenschädel mit einer Krone aus Grabkreuzen dar. Die „innere Emigration“ war eben mehr als eine Versammlung von Feiglingen, sie hatte viele Gesichter. Eines davon sieht man hier.

Das fotografische Werk, zu dem das Gä­ste­buch eine Art Fußnote bildet, entstand in einem Zeitraum von weniger als sechs Jahren. 1926 absolviert die Kunstgewerbestudentin Marta Vietz aus Neudamm in Westpommern eine fotografische Ausbildung in einem Berliner Fotostudio. Erst im Jahr darauf macht sie sich als freie Künstlerin mit Atelier in Wilmersdorf selbständig, aus dem sie bald nach Charlottenburg und Schöneberg und zuletzt nach Dahlem umzieht. In den folgenden Jahren entwirft sie mit ihrem Bekannten Hajek-Halke die Reklamekampagne für Walter Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“, leitet die Werbeabteilung einer Plattenfirma, arbeitet als Layouterin für eine Monatszeitschrift und als Zeichnerin für einen Hersteller von Filmdekorationen. Gleichzeitig entstehen mehr als zweihundert Ate­lierfotos, von denen die Berlinische Galerie etwa zwei Drittel ausstellt.

 aus der Fotoserie „Höflichkeit“, undatiertStraßenszene: aus der Fotoserie „Höflichkeit“, undatiertBerlinische Galerie/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Sie zeigen eine Künstlerin, die sich mit der Kamera selbst befragt und ihre Modelle, ihre Requisiten, ihre Dekors in diese Befragung hineinzieht. Ihr Markenzeichen ist die Pose – als Priesterin, Nachtschwärmerin, launische Diva, als Leserin von Zeitungen und Eheratgebern, als Domino und Domina. In zwei Fotoserien, „Warten“ und „Höflichkeit“ betitelt, übersetzt sie das Rollenspiel in szenische Arrangements: Patienten warten in einer Arztpraxis, ein Mann im Frack wartet auf seine Frau, die noch vor dem Schminkspiegel sitzt; ein Berliner Stenz fuchtelt mit seinem Spazierstock vor einer Passantin mit Bubikopf herum. Meistens aber bleibt Marta Astfalck-Vietz mit ihren fotografischen Phantasien im Atelier. Hier kontrolliert sie nicht nur den Lichteinfall, sondern vor allem das Spiel mit der Intimität.

 Ohne Titel, um 1927Die Frau als Statue: Ohne Titel, um 1927Berlinische Galerie/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Im Zentrum ihrer Erkundungen nämlich steht der weibliche Körper – als Objekt des Begehrens wie als subjektives Ausdrucksmittel. Deshalb fotografiert sie nicht nur Freundinnen und Bekannte wie die Ausdruckstänzerin Oda von Holten, sondern immer wieder auch sich selbst, sei es nackt oder bekleidet. In einer Serie von 1927 nimmt sie sich selbst in verschiedenen Verkleidungen auf, als Geisha, als Edelfräulein, als Halbweltdame mit Fächer, als reiche Salonière und als Tänzerin im Bastrock à la Josephine Baker. Die Berlinische Galerie hat es sich nicht verkneifen können, das Bild mit einer Triggerwarnung zu versehen: Es handle sich um „unhinterfragte Übernahme kultureller Aus­drucksformen Schwarzer Identität“, mit der „koloniale Machtverhältnisse und rassistische Stereotype“ reproduziert würden.

Damit verbauen sich die Kuratoren selbst den Zugang zu dem Werk, das sie ausstellen. Denn das Spiel mit der Maske war ein Zeitphänomen der Zwanzigerjahre. Es zieht sich durch die Malerei von Grosz und Dix ebenso wie durch das deutsche Stummfilmkino oder die Romane von Hermann Hesse oder Norbert Jacques. Gottfried Benn hat damals in einem Gedicht für seine Freundin Frieda Riess die Affinität von Fotografie und Maskerade auf den Punkt gebracht: „Dort die Braue, die Wange, / hier – erblicken sie nicht / hinter den Masken im Zwange / fliehend das eine Gesicht? (...) Die Gestalten, die Striche / tief in der Tusche des Lichts, / auf der Platte die Iche – / Züge des Nichts.“

Ebendiese Spannung von Seelendurchleuchtung und Ichverlust zieht sich durch die Fotos von Marta Astfalck-Vietz. Je öfter sie vor die eigene Kamera tritt, desto stärker wird sie selbst zur Spielfigur. Ihr Körper, den sie unter dünnen Seidengeweben verbirgt und zugleich entblößt, reiht sich zwischen die Frauenakte, die Tänzerinnen, die expressiv gekrümmten Hände und blühenden exotischen Pflanzen vor ih­rer Kamera als eine von vielen Routinen aus ihrem visuellen Repertoire ein. Fotografinnen wie die Amerikanerin Francesca Woodman sind an dem Widerspruch, zugleich Subjekt und Objekt des Blicks zu sein, zerbrochen.

Marta Astfalck-Vietz war zu lebenstüchtig, um sich von ihm beherrschen zu lassen. Als sie nicht mehr als Fo­to­gra­fin arbeiten durfte, kehrte sie zu ihrer ersten künstlerischen Liebe zurück, der Blumenmalerei. Die Zahl ihrer Aquarelle geht in die Tausende. Aber in den zweihundert Fotos aus ihrer Frühzeit ist etwas Kostbares aufbewahrt: die wilde Freiheit und das kurze Glück der deutschen Zwanzigerjahre. Man liest sie wie einen Brief, der nach hundert Jahren endlich seinen Adressaten erreicht.

Inszeniertes Selbst. Marta Astfalck-Vietz. Berlinische Galerie, bis zum 13. Oktober. Der ­Katalog kostet 34,80 Euro.

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