Weltweite Lesungsreihe: Hilfe für unterdrückte osteuropäische Wissenschaftler

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Das in New York City ansässige „Tamizdat Project“, eine wissenschaftliche Organisation, die in Osteuropa durch staatliche Zensur verbotene Bücher erforscht, hat jüngst zu einer Spendenaktion aufgerufen, um vom Krieg betroffene Studenten und Wissenschaftler finanziell zu unterstützen. Sie steht unter dem Motto „Manuskripte brennen nicht“, ein zum geflügelten Wort gewordener Ausdruck aus Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“. Dieses Werk konnte der Autor zu Lebzeiten nie veröffentlichen, der Text erschien in zensierter Version erstmals 1966. Zugleich kursierten die gekürzten Passagen als sogenannter Samisdat.

Seit den Dreißigerjahren herrschte in der Sowjetunion in Kunst und Literatur der Sozialistische Realismus und mit ihm strikte Zensurbestimmungen. Das änderte sich erst unter Gorba­tschow. Bis dahin wurden staatlich unerwünschte Werke entweder als Samisdat im Do-it-yourself-Verfahren produziert oder aber als „Tamisdat“ im Ausland. Jetzt sind längst verloren gehoffte Zeiten zurückgekehrt: In Russland werden heute nicht nur Stalindenkmäler errichtet, sondern auch wieder Texte verboten und deren Urheber kriminalisiert.

Neben dem Verkauf seltener Erstausgaben und signierter Bücher organisierte das „Tamizdat Project“ als Teil seiner Spendenkampagne am vergangenen Sonntag weltweit Lesungen mit renommierten russischsprachigen Autoren – in New York, London, Berlin, Paris, Prag, Riga, Vilnius und Ti­flis. Die Berliner Lesung, die sich über fast vier Stunden erstreckte, fand in der russischsprachigen Buchhandlung Babel Books in Prenzlauer Berg statt. Durch den Abend führte Felix Sandalov, Verleger und Gründer der gemeinnützigen Initiative „StraightForward“, die Autoren unterstützt, die ihre Bücher aufgrund staatlicher Zensur nicht mehr in Russland veröffentlichen können.

Festnahmen wegen queerer Publikationen?

Sandalov berichtete von der Festnahme ehemaliger Kollegen aus Moskauer Verlagen vor wenigen Tagen. Er vermutet, dass sie wegen früherer Veröffentlichungen von Büchern belangt werden sollen, in denen queere Personen vorkommen. „Manuskripte brennen nicht, aber Bücher brennen“, sagte Sandalov. Während Ideen fortleben und gerettet werden könnten, etwa durch Exilprojekte wie seines, könne das gedruckte Wort physisch vernichtet werden. Das werde früher oder später in Russland passieren.

Den in russischer Sprache gehaltenen Abend in Berlin eröffnete die Dichterin Inna Krasnoper mit verspielt-rhythmischen, mit klanglichen statt semantischen Verbindungen ope­rierenden Versen. Sie schreibt auf Russisch und Englisch, teilweise auch translingual, wodurch sich plötzlich deutsche Wörter in den Texten finden. Krasnoper stammt aus Ufa und lebt seit 2011 in Berlin. Nach ihr las die aus Kasan stammende Dinara Rasuleva, die neben Russisch auch in ihrer Muttersprache Tatarisch schreibt, Ausschnitte aus ihrem Roman „Traumagotchi“ vor.

Die Journalistin Anna Narinskaya, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Russland verließ, berichtete, dass neuerdings wie zu Sowjetzeiten im Ausland publizierte Bücher als Re-Import ins Land geschmuggelt werden. Eine Bekannte habe die postum erschienene Autobiographie „Pa­triot“ des in Haft gestorbenen Oppositionsführers Alexej Nawalnyj im Gepäck gehabt. Das Buch sei ihr bei der Einreise abgenommen worden; man könne von Glück reden, dass sie nicht im Gefängnis gelandet sei.

Wo das gesammelte Geld hinfließen wird

Die auf Russisch schreibende Autorin Zhenia Berezhna, die ihre Heimatstadt Kiew aufgrund des Krieges verlassen musste, las aus ihrem dokumentarischen Roman „(Nicht) Über den Krieg“. Nach einigen weiteren Auftritten, etwa des belarussischen Dichters Dmitry Strotsev, der bei „hochroth Minsk“ Literatur aus seiner Heimat verlegt, beschloss Alexander Delfinov mit einem punkig-expressiven Auftritt den Abend. Bei der parallelen Veranstaltung in New York las unter anderem die Journalistin Jelena Kostjutschenko, die sowohl wegen ihrer offen queeren Lebensweise als auch ihrer journalistischen Tätigkeit in Russland Repressionen ausgesetzt war. Nachdem sie das Land verlassen hatte, wurde sie in München mutmaßlich Opfer eines Giftanschlags.

Der Großteil des gesammelten Geldes werde an ukrainische Studenten verteilt, so der „Tamizdat Project“-Gründer Yasha Klots gegenüber der F.A.Z., man unterstütze aber auch Menschen aus Belarus und Russland. Während eine erste Spendenkampa­gne 2023 Autoren dieser drei Länder zugute gekommen sei, würden jetzt alle Anträge von Personen in erzwungener Emigration berücksichtigt.

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