Einst spielte Samed Yesil an der Anfield Road vor knapp 40.000 Zuschauern für den FC Liverpool. Zwölf Jahre und eine Vielzahl an Verletzungen später ist das einstige Supertalent in der 9. Liga angekommen. Was bleibt: Jede Menge tolle Erinnerungen, eine Wand voller Trikots und der unstillbare Torhunger.
Trug von 2012 bis 2015 den Dress des FC Liverpool: Samed Yesil imago sportfotodienst
Dass der Fußball nicht immer nur rosig ist, sondern ein schnelllebiges und vor allem knallhartes Geschäft sein kann, davon kann auch Samed Yesil ein Lied singen. Vor zwölf Jahren hatte der damals 18-Jährige alles, wovon viele junge Fußballer nur träumen. Als hochgehandeltes Sturmtalent durchlief er die Jugendakademie von Bayer Leverkusen und gab im April 2012 beim spektakulären 3:3 gegen Hertha BSC sein Debüt in der Bundesliga. Es war ein vielversprechender Start, der alle Weichen für eine glanzvolle Profi-Karriere zu stellen schien.
Das war wie ein Traum. Vor meiner Zeit in Liverpool kannte ich all diese Spieler nur von der Playstation.
Und tatsächlich: Im Sommer darauf klopfte niemand Geringeres als der große FC Liverpool an die Tür. Wenige Monate und eine Ablösesumme von 1,3 Millionen Euro später fand sich das in Düsseldorf geborene Sturmtalent plötzlich in einer Kabine wieder, die er mit Top-Stars wie Steven Gerrard, Luis Suarez, Philippe Coutinho, Raheem Sterling und Nuri Sahin teilte. "Es war wie ein Traum", erinnert sich Yesil an die wohl aufregendste Zeit seiner Karriere. "Vor Liverpool kannte ich all diese Spieler nur von der Playstation, und auf einmal saß ich neben ihnen." Es habe eine ganze Weile gedauert, das alles zu begreifen. Trotz der großen Namen waren alle aber so freundlich, dass aus dem Traum schnell Alltag wurde.
Eine andere Welt
"Das waren alles Weltfußballer", erinnert sich Yesil an die Stars, denen er fortan Tag für Tag im Training begegnete. Wenn er es am Wochenende nicht in den Kader für die Premier League schaffte, lief er für die U 21 auf. Die Unterschiede zum deutschen Fußball waren für den jungen Stürmer gravierend - beinahe wie Tag und Nacht. "In Leverkusen hatte ich ja auch schon mit den Profis trainiert, aber in England war das eine völlig andere Welt", erzählt Yesil. "In Deutschland liegt der Fokus auf Taktik, in Liverpool hieß es nur: Pressing, Pressing, Pressing. Reiner Angriffsfußball. In Sachen Physis und Ausdauer war das eine ganz neue Herausforderung."
Ich habe mir viel bei ihm abgeschaut. Sein Abschluss, die Bereitschaft und der absolute Wille waren außergewöhnlich.
Samed Yesil über seinen damaligen Mannschaftskollegen Luis Suarez
Ein Spieler blieb Yesil besonders gut in Erinnerung: Luis Suarez. "Ich habe mir viel bei ihm abgeschaut. Sein Abschluss, die Bereitschaft und der absolute Wille waren außergewöhnlich." Suarez, der später als Teil des legendären MSN-Trios mit Messi und Neymar 2015 die Champions League im Trikot des FC Barcelona gewann, zeigte diesen Ehrgeiz auch nach den regulären Übungseinheiten am Melwood Training Ground. "Nach dem Training schnappte er sich oft den Ersatztorhüter und den Co-Trainer, um noch 45 Minuten lang aufs Tor zu schießen", erinnert sich Yesil. "Ich dachte mir: 'Der ist schon so gut und ist trotzdem so engagiert, noch besser zu werden.' Das hat mich als jungen Spieler sehr beeindruckt."
In der Premiere League kam Yesil zwar nie zum Einsatz, dafür aber im League Cup, in dem er beim 2:1-Auswärtssieg gegen West Bromwich am 26. September 2012 sein Startelf-Debüt gab. Ende Oktober folgte der Höhepunkt seiner Karriere. Im Achtelfinale gegen Swansea City lief Yesil vor gut 37.500 Zuschauern an der Anfield Road auf. "Das war das größte Highlight. Mit 18 Jahren in Anfield in der Startelf zu stehen, war etwas ganz Besonderes. Das werde ich nie vergessen." In der Halbzeit war für ihn Schluss und sein Vorbild Luis Suarez ersetzte ihn auf dem Feld.
Das böse Erwachen
Doch alle Träume haben bekanntlich irgendwann ein Ende. Für Yesil waren es zwei Kreuzbandrisse im rechten Knie Anfang 2013 und Anfang 2014, die seinen Profi-Traum platzen ließen. Zwar sammelte der Angreifer in den Jahren darauf weitere Erfahrung, die ganz große Karriere blieb ihm jedoch verwehrt. 2015 wurde Yesil an den FC Luzern in die Schweiz ausgeliehen. Danach führte ihn sein Weg nach Griechenland, in die Türkei und schließlich zurück nach Deutschland, wo er noch einmal für den KFC Uerdingen in der 3. Liga auflief. Doch die Narben seiner Verletzungen begleiteten ihn und warfen ihn immer wieder aus der Bahn.
Mein Körper ist einfach nicht für den Profi-Sport gemacht.
"Mein Körper ist einfach nicht für den Profi-Sport gemacht", analysiert Yesil. "Immer wenn man dachte, man ist wieder bei 100 Prozent, kam der nächste Rückschlag. Das macht etwas mit dem Kopf. Irgendwann hatte ich keine Lust und Kraft mehr. Ich hatte eine tolle Zeit in England, Griechenland, Deutschland, der Schweiz und der Türkei. Doch irgendwann habe ich mit dem Profi-Traum abgeschlossen."
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich alles genauso machen.
Heute schreibt Yesil ein neues Kapitel seines Lebens. Er ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und absolviert eine Umschulung zum Logistiker. Nebenbei schnürt er seine Fußballschuhe noch immer - in der 9. Liga für den Krefelder Klub Anadolu Türkspor. Bereuen? Das kommt für ihn nicht in Frage. "Ich glaube fest daran, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht", sagt er. "Natürlich könnte man sich fragen, was hätte sein können. Aber ich bin heute glücklich verheiratet und habe zwei Kinder. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich nichts ändern. Wie oft bekommt man schon die Chance, für den FC Liverpool zu spielen?"
Bundesweite Neuntliga-Spitze
Seine Klasse hat der Millionen-Stürmer bis heute nicht verloren. 53-mal hat Yesil in den 15 Spielen der laufenden Saison der Kreisliga B 2 schon getroffen und führt damit das bundesweite Ranking der "Torjägerkanone® für alle" an. "Bis vor einem Monat wusste ich nichts von diesem Ranking, bis mich ein Mannschaftskollege darauf angesprochen hat. Coole Sache."
Die 60 Tore, die sich Yesil zu Saisonbeginn als Ziel gesetzt hat, könnten schon bald Realität werden - und damit auch der Gewinn der Torjägerkanone in greifbare Nähe rücken. In seinem Ferienhaus in der Türkei hat der 30-Jährige bereits einen kleinen Fußball-Schrein geschaffen. "An der Wand hängen Matchworn-Trikots von jedem Verein, für den ich in meiner Karriere gespielt habe", erzählt er stolz. Die "Torjägerkanone® für alle" wäre ein weiteres - und vermutlich das letzte - Erinnerungsstück an eine Karriere, die trotz aller Rückschläge sowohl tragisch als auch faszinierend bleibt.
Lukas Karakas